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56 | www.limina-graz.eu b) Aus dem säkularen Handlungsfeld: Fasten und Askese
Während traditionelle Rituale der institutionellen Religion rückläufig sind,
ist ein Trend zu neuen Ritualen im säkularen Bereich zu beobachten. Das
traditionelle kirchliche Fasten – etwa freitags, vor dem Empfang der Kom-
munion oder in der Fastenzeit – erlebt eine besondere Krise. In der Gesell-
schaft wurde aber noch nie so viel gefastet wie heute.
Insbesondere werden die Vorschriften der Kirche, die mit dem Körper zu
tun haben, nicht mehr als plausibel angesehen. Franco Garelli beobachtet
für Italien: „Il 75,2% degli Italiani non condivide il divieto ai giovani di
avere rapporti sessuali prima del matrimonio, e oltre l’80% disapprova la
proibizione alle persone divorziate e riposate civilmente di accostarsi ai
sacramenti.“ (Garelli 2011, 184) So scheint Askese auf den ersten Blick nicht
mehr plausibel zu sein.
„Wer verzichtet, indem er der Welt entsagt, gilt heute als verklemmter
Sonderling, der ein gestörtes Verhältnis zur Lust und zum sinnenfrohen
Leben hat. Verzicht auf Sexualität gar ist besonders verdächtig. […] Den-
noch (oder gerade deswegen) wird Askese heute fast nur noch negativ
wahrgenommen.“ (Michaels 2004, 7–8)
Neue Rituale im säkularen Handlungsfeld sind Ausdruck der Suche nach
Autonomie der Individuen, die nicht mehr akzeptieren, dass ihnen eine re-
ligiöse Institution vorschreibt, was sie tun müssen, besonders wenn es den
Körper betrifft.
Danièle Hervieu-Léger spricht von der „religiösen Emanzipation des
Selbst bewusstseins der Menschen in einer Welt, in der sich die Autono-
mie des Individuums festigt“2 (Hervieu-Léger 2005, 296); einer religiösen
Emanzipation, die schließlich zu Formen des religiösen Bricolage führt.
Andererseits gelte, „die Instanzen, die für die offizielle Verwaltung die-
ser Ressourcen zuständig sind, haben tatsächlich zumindest teilweise den
Machtanspruch aufgeben mĂĽssen, fĂĽr jeden Einzelnen und fĂĽr die ganze
Gesellschaft den richtigen Glauben zu definieren und vorzuschreiben“3
(Hervieu-Léger 2005, 296).
In diesem Kontext der eigenen religiösen Komposition entscheidet das
Individuum selbst, ob und welche Rituale es sich vornimmt. Diese Selbst-
Entscheidung macht dann auch den Wert – die Authentizität – von Ritu-
Peter Ebenbauer und Isabelle Jonveaux | Zwischen Selbstermächtigung und Unterwerfung
2 Im Original: „émancipation reli-
gieuse des consciences dans un
monde où s’affirme l’autonomie
des individus “ (Übers. I.J.).
3 Im Original: „les instances en
charge de la gestion officielle de ces
ressources se trouvent en effet au
moins partiellement déboutées de
leur prétention à dire et à prescrire
le croire vrai pour chacun et pour la
société toute entière“ (Übers. I.J.).
Neue Rituale als Ausdruck der Suche nach Autonomie.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 1:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 1:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 236
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven