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70 | www.limina-graz.eu Aspekte und Beziehungen von Macht und Ohnmacht, Machtverhältnisse,
-konstellationen und mit dem Gottesbild verknĂĽpfte -diskurse spielen in
biblischen Texten eine zentrale Rolle. Gerade der Konnex mit Gottesvor-
stellungen verweist auf ein wesentliches Thema biblischer Theologie.
Macht wird häufig männlich konnotiert, Ohnmacht entsprechend weib-
lich assoziiert. Es ist daher kein Zufall, wenn in der Bibel Frauengestalten
als Symbolfiguren fĂĽr das notleidende Gottesvolk und als Sprachrohr fĂĽr
kollektive (im Blick auf Frauen sich auch ĂĽberschneidende) Gewalt- und
Ohnmachtserfahrungen fungieren: klassisch etwa „Tochter/Mutter Zion“1
(gemäß der Personifikation von Städten in altorientalischer, biblischer und
antiker Tradition) in ihrer Vulnerabilität, analog auch weibliche Erzähl-
figuren. In der weiblichen Figuration tritt u.a. eine spezifische Geschlech-
tersymbolik in der Gottesbeziehung zu Tage (Zimmermann 2001, 104–152;
zur prophetischen Ehemetaphorik auch Baumann 2000).2 Ferner kann sich
darin aber auch die politische Ohnmacht (exemplarisch im Bild der Witwe,
vgl. Klgl 1,1) gegenüber den jeweiligen Großmächten spiegeln – von Assur
bis Rom. So arbeitet Kriegsrhetorik häufig mit gendertypologischen Zu-
schreibungen auf dem Hintergrund eines kulturellen Codes von Ehre und
Schande.3 Die kriegerische Einnahme einer Stadt wird in prophetischen
Texten beispielsweise in Metaphern sexueller Gewalt gegen Frauen ver-
bildlicht (Kelle 2008; Gordon/Washington 1995).4
Gleichzeitig zeigt sich in biblischen Erzählungen ein Durchbrechen der
hier reproduzierten Genderkonstruktionen, wenn etwa gerade stereotyp
als machtlos erachtete Frauen (ohne dass die unterschiedlichen biblischen
Texte einheitliche Rollenerwartungen festschreiben) an Gottes Rettungs-
macht partizipieren. Nach Michel Foucault ist Macht schlieĂźlich eine dy-
namische Größe und „in der Form von komplexen und beweglichen stra-
tegischen Relationen zu analysieren“ (Foucault 2005, Nr. 348: „Der Stil der
Geschichte“ [1984], 806). Macht erzeugt Gegen-Macht. Machtbeziehun-
gen implizieren – „zumindest virtuell“ – Widerstand (Foucault 2005, Nr.
306: „Subjekt und Macht“ [1982], 292).
In biblischen Texten wird Ohnmacht im Vertrauen auf Gott ĂĽberwunden, der
Macht als Handlungsfähigkeit und Gestaltungsspielraum, die herrschen-
den Verhältnisse als Subjekt zu verändern, verleiht. In den Mund weibli-
cher Erzählfiguren gelegte Lieder und Gebete entwerfen in der Tradition
prophetischer Sozialkritik bzw. politischer Anklage Visionen von Befreiung
angesichts vielerlei Facetten von UnterdrĂĽckung und sozio
ökonomischer
Ungerechtigkeit, die quer durch die Geschichte als (er)mächtige(nde) Hoff-
nungsbilder wirken. In solchen utopischen Gegen
entwürfen zu herkömm-
Andrea Taschl-Erber | Die Macht der Ohnmächtigen
1 Dazu Maier 2008 und 2019 (in
Vorbereitung); Häusl 2003 und 2011;
Holt 2014.
2 Siehe z.Â
B. Jer 3 zu Israel/Juda als
Schwestern.
3 Vgl. auch Jes 19,16; Jer 50,37;
51,30; Nah 3,13.
4 Siehe z. B. Ez 16; 23 zu Samaria/
Jerusalem. Dazu bes. Poser 2012; Van
Dijk-Hemmes 1995.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 1:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 1:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 236
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven