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71 | www.limina-graz.eu lichen Machtdiskursen und sozial-politischen Konzepten artikuliert sich
eine Sub- bzw. Gegenkultur, welche die dominierende Ordnung heraus-
fordert und das subversive Potential hat, Macht- und Herrschaftsstruk-
turen zu transformieren. Damit korreliert das Bild einer (allmächtigen)
Gottheit, die auf die Not der UnterdrĂĽckten sieht, in treuem Erbarmen auf
der Seite der Armen steht, gegenüber den Machenschaften der Mächti-
gen machtvoll Befreiung und Gerechtigkeit verschafft sowie (scheinbar?)
Machtlose zum Widerstand ermächtigt.
Anhand einiger exemplarischer Texte soll nun eine entsprechende Erinne-
rungsspur im Horizont der Vielstimmigkeit des biblischen Kanons verfolgt
werden. So ist das Lied Hannas in 1 Sam 2 geprägt vom Leitgedanken der
Ermächtigung („Erhöhung“) der Ohnmächtigen, ebenso seine Rezeption
im neutestamentlichen Magnificat (Lk 1), im „deuterokanonischen“ Judit-
buch stellt der Machtbegriff ein die gesamte Erzählung durchziehendes
Leitmotiv dar. GegenĂĽber Traditionen, die etwa den Fokus auf den Mes-
siaskönig oder apokalyptischen Menschensohn als Retter im endzeitlichen
Kampf gegen gottfeindliche Mächte richten, stehen Formulierungen der
Hoffnung und des Widerstands im Blickpunkt, die sich mit Frauenfiguren
verbinden, deren Ohnmachts- wie Befreiungserfahrungen auf kollektive
Erfahrungshorizonte biblischer Armentheologie hin transparent sind. Be-
sondere Aufmerksamkeit richtet sich auf Gebets- und Liedtexte, welche
die erzählten Ereignisse theologisch reflektieren. Die Diskussion, ob hier
auf historischer Ebene authentische Frauenstimmen (female voices, dazu
Brenner/Van Dijk-Hemmes 1993) zu Wort kommen, muss im Rahmen des
vorliegenden Beitrags freilich zurückgestellt werden. Doch fällt beim bib-
lischen Befund auf, dass die Lieder von Frauen (Mirjam, Debora, Hanna,
Judit, Maria) die herrschenden Machtverhältnisse kritisch thematisieren
und der ĂĽberkommenen Ordnung Widerstand entgegensetzen (vgl. Fischer
2002, 125).
Ob diese in intertextuellem Dialog stehenden biblischen Ăśberlieferungen
als utopische Visionen einer alternativen Welt ihre transformative Kraft in
Geschichte, Gegenwart und Zukunft entfalten, hängt an den spezifischen
Rezeptionen (die bereits im Rahmen „innerbiblischer“ Schriftauslegung
einsetzen). Erinnerung – oder auch das Gegenteil – ist politische Praxis.
Dabei ist festzustellen, dass sich die christliche Rezeptionsgeschichte mit
Andrea Taschl-Erber | Die Macht der Ohnmächtigen
Biblische Texte bieten subversives Potential
zur Transformation von Machtstrukturen.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 1:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 1:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 236
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven