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86 | www.limina-graz.eu keit und Solidarität bestimmten Gemeinschaft, als gelebte Heterotopie,
Gottes ἔλεος/ Raum erhält) mit subversivem Potential. Spiritualisie-
rende oder allegorisierende Lesarten verkĂĽrzen dagegen die politische Di-
mension des in christlicher Tradition zentralen Textes und berauben ihn
seiner systemverändernden Kraft. Aus Maria, der gegen die Macht- und
Herrschaftsstrukturen protestierenden Prophetin, wurde die demĂĽtige,
gehorsame Magd. Gilt sie in befreiungstheologischen Interpretationen als
„Erbin und zugleich Erneuerin der Hoffnungen der Armen“ (Gebara/Luc-
chetti Bingemer 1988, 10, die in „Maria sowohl eine individuelle Gestalt wie
auch zugleich das Symbol des Volkes in Erwartung des Messias“ sehen, 75),
werden stark praxisorientierte Auslegungen ihres Liedes im privilegierten
globalen Norden oft unter Verdikt gestellt.
Bilanz und Ausblick
Die in den Lied- und Gebetstexten verdichteten theologischen Reflexionen
halten der – jeweiligen – Gegenwart in Aktualisierung der biblischen Über-
lieferungen einen kritischen Spiegel vor und entwerfen prophetische Uto-
pien, welche die herrschenden Machtverhältnisse auf den Kopf stellen. In
ihnen kommt nicht die dominante Perspektive der „Mächtigen“ zu Wort,
sondern werden gerade die DemĂĽtigungen, Hoffnungen und Stimmen der
(herkömmlich gesehen) Ohnmächtigen hörbar. Angesichts sich wiederho-
lender geschichtlicher Erfahrungen von Machthabenden, die ihre – phy-
sische, soziale, ökonomische, politische oder auch intellektuelle, spiritu-
elle, religiöse – Macht missbrauchen, individuelle oder strukturelle Gewalt
ĂĽben, die Welt mit Kriegen ĂĽberziehen, weist der biblische Gegendiskurs
darauf hin, dass Macht von Gott verliehen und der verantworteten Aus-
ĂĽbung aufgegeben ist. Die von Frauenfiguren mit prophetischer und weiser
Autorität angestimmten Lieder preisen die rettende Macht der Gottheit,
die gerade nicht durch die „Mächtigen“ repräsentiert wird, sondern in
vielfältigen Unterdrückungssituationen im Kontext von sozialer Margina-
lisierung und Ungerechtigkeit, ökonomischer Ausgrenzung und Ausbeu-
tung, Imperialismus, Kolonialismus und Krieg „auf die Erniedrigung“ der
Opfer von Gewalt und Machtmissbrauch „sieht“, die Schreie der Entrech-
teten und Verzweifelten „hört“ und sich gegenüber irdischen Widersachern
siegreich erweist. So wirkt die sprachmächtige Botschaft von Umsturz und
göttlichem Gericht, wie sie im Lied Hannas, Judits oder Marias artikuliert
wird, je nach Standort als beunruhigende Warnung oder Hoffnung schen-
Andrea Taschl-Erber | Die Macht der Ohnmächtigen
דֶסֶח
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 1:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 1:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 236
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven