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122 | www.limina-graz.eu âHartmann ĂŒbertitelt den Brief mit âOuting eines ehemaligen Lustk-
nabenâ und schreibt unter Hinweis auf die âLustknaben und Knaben-
schĂ€nderâ betreffende Stelle im Korintherbrief: âDamit ruft der Kardinal
das Gottesurteil auf sein eigenes Haupt herab.â Auf der RĂŒckseite rich-
tet Hartmann eine persönliche Botschaft an profil-Chefredakteur Josef
Votzi, der selbst seine Schulzeit im Hollabrunner Knabenseminar und bei
der Legio Mariens verbracht hat: Er bitte um âRĂŒcksprache ĂŒber die Art
und Weise der Veröffentlichung.ââ (Czernin 1998, 77)
Man fĂŒhrt ein Interview, das notariell beglaubigt und dem Wiener Erz-
bischof dann schriftlich am 23. MĂ€rz ĂŒbermittelt wird. Ein derart öffentlich
kritisierter Mensch muss dazu vorab Stellung nehmen können; das ge-
bietet der Ehrenkodex eines professionellen QualitÀtsjournalismus. Das
Sekretariat des Erzbischofs verweigert aber jede Stellungnahme. Allerdings
versucht der Klubobmann der ĂVP im österreichischen Parlament, Andreas
Khol, am Samstag eine Beschlagnahmung der profil-Ausgabe vom darauf-
folgenden Montag, 27. MĂ€rz 1995, in die Wege zu leiten, was rechtlich
durch aus möglich gewesen wÀre. Jedoch ist der Erzbischof nicht bereit, den
vorbereiteten Beschlagnahme-Antrag zu unterschreiben.
Das profil-Heft erscheint daraufhin an jenem Montag mit dem besag-
ten Interview und tritt eine Lawine los, die mit einer stÀndig wachsenden
Wucht durch die österreichische Kirche, Gesellschaft und Nation rast und
schlieĂlich durch die ganze Weltkirche wandert. Vorab am Sonntag hatten
die beiden Wiener Weihbischöfe Helmut KrÀtzl und Christoph Schönborn
mit einer Stellungnahme zu Vorausmeldungen reagiert, die sich darĂŒber
empörte, dass es seit der Nazizeit âderlei Verleumdungspraktiken gegen
die Kirche nicht mehr gegebenâ (Czernin 1998, 78) habe. SpĂ€ter hat sich
Erzbischof Schönborn fĂŒr diese ĂŒbereilte Reaktion entschuldigt. Sie belegt,
dass es damals nicht nur fĂŒr diese beiden, sondern selbst fĂŒr intime Kenner
der Materie unmöglich war, anderes als unverschÀmte Propaganda gegen
die Kirche darin zu sehen. All das ist allseits bekannt und muss hier auch
nicht weiter verhandelt werden.
Viel wichtiger ist etwas anderes: Die Bischöfe ĂŒbersahen zu diesem Zeit-
punkt völlig, dass sich hier ein kircheninterner, aber gerade darum umso
wichtigerer gesellschaftlicher Disput Bahn brach, der ĂŒber die eigentli-
chen Versprechungen des christlichen Glaubens gefĂŒhrt wird. Was bedeu-
ten sie fĂŒr die Menschen heute und wozu ist der Glaube an sie ĂŒberhaupt
in der Menschheit da? Um nicht weniger als das geht es in der Sache. Die
ReprĂ€sentanten der Kirche in der Hierarchie mussten sich darĂŒber von an-
derer, sÀkularer Seite aufklÀren lassen. So erinnerte sie der Kommentator
Hans-Joachim Sander | Gebrochenes Ver(-)sprechen
als er einerseits die Regularien sei-
ner Erzdiözese verteidigte, die erst
er selbst am Beginn seiner Amtszeit
in dieser Diözese implementiert
hatte, nÀmlich konsequent keinen
TĂ€ter nach dem Aufdecken der Tat
in der pastoralen Arbeit zu belassen,
und die er als einen entscheiden-
den Schritt nach vorn ansah â was
es damals, sogar global gesehen,
tatsĂ€chlich war â, aber sich ande-
rerseits zugleich auĂer Stande sah,
ĂŒber andere FĂ€lle als den, den der
Boston Globe offenbart hatte, etwas
zu sagen oder weitere abrufbare
Informationen zur VerfĂŒgung zu
stellen. Danach war allen im Raum
und an den TV-Apparaten klar, dass
es erstens eine weit höhere als die
zuvor angenommene (letztlich dann
unglaubliche) Zahl an FĂ€llen geben
mĂŒsste, dass die âvorbildlicheâ
Bostoner Praxis zweitens keineswegs
selbstverstÀndlich in anderen
katholischen Diözesen war und dass
die Kirche wie die Medien drittens
erst am Beginn eines sehr langen,
komplexen, hochgradig prekÀren
Aufdeckungsprozesses standen.
Daran hat sich bis heute nichts
Wesentliches geÀndert. Kardinal
Law trat schlieĂlich am 13.12.2002
als Erzbischof von Boston zurĂŒck
und siedelte nach Rom um. Dort
wurde er von Papst Johannes Paul II
im Mai 2004 mit dem Erzpriester-
tum der Basilika Santa Maria Mag-
giore betraut; das Amt hatte er bis
zum 21.11.2011, kurz nach seinem
80. Geburtstag, inne.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 1:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 1:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 236
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven