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131 | www.limina-graz.eu Schamlose Ver-sprechen im Missbrauch
Ein sexueller Missbrauch kann über Jahrzehnte in einer Existenz mit
großer Macht nagen, weil die Opfer nicht aufhören können, sich zu schä-
men. Sie müssen immer fürchten, dass ihre Scham öffentlich wird, weil
das die Ohnmacht noch verschärft, die sich durch den/die Übergriff/e in
ihnen fest gesetzt hat. Im kirchlichen Kontext kommt hinzu, dass die er-
ste Phase des Missbrauchs in der besonderen Erwählung besteht, die die
Nähe zu einer höhergestellten geistlichen Person auszeichnet und die von
den Tätern sehr pointiert eingesetzt wird (vgl. dazu Hallay-Witte/Janssen
2016, 118, 122, 123).
Die Buben, denen sich Groër übergriffig genähert hat, wurden durch die
besondere Aufmerksamkeit ausgezeichnet, die er ihnen widmete. Das
ist ein typischer und im Missbrauch zugleich ein perfider Vorgang in der
priesterlichen Seelenführung Jugendlicher. Er ist typisch, weil anders die
geistliche Nähe nicht zum Ausdruck kommen kann. Er wird aber dann per-
fide, sobald allein die Kinder und Jugendlichen die Kosten dieser Nähe tra-
gen müssen. Sie dürfen sich dann dieser Nähe nicht schämen, weil sie ja
von dem geistlichen Seelenführer auserwählt sind. Aber sie müssen sich
unvermeidlich schämen, weil seine Nähe übergriffig praktiziert wird. Die
berüchtigten Zungenküsse, mit denen, als „Bruderschaftskuß“ (Czernin
1998, 88), Groër Buben im Knabenseminar insbesondere in Beichtsitu-
ationen stärken wollte, sind von diesem Widerspruch geprägt (Belege bei
Czernin 1998, 79, 80, 88, 93, 95, 182, 193). Sie sind schamlos, sie beschä-
men und sie werden verschämt.
Daraus resultiert aber zugleich für den Akteur eine außerordentliche Macht.
Im Bericht eines ehemaligen Mönchs des Stiftes Göttweig vom Februar
1998, der zuvor ebenfalls bei Groër im Hollabrunner Aufbaugymnasium
war, an die Visitatoren des Klosters heißt es:
„Doch das Schweigegebot war es, das es dem nunmehrigen Kardinal
Groër ermöglichte, seine Machtstrukturen aufzubauen und zu erhalten.
Er vermittelte den Eindruck, daß er seine Zuneigung einzig und allein nur
dem Beichtenden schenke, daß beispielsweise seine ‚Zärtlichkeiten‘ nur
dem Auserwählten gelten würden, so daß man sich natürlich nieman-
dem anderen anvertraute.“ (Czernin 1998, 198–199)
Eine solche besondere Aufmerksamkeit macht daher nicht stark, sondern
schutzlos, weil sie sich übergriffig auswirkt. Sie respektiert nicht das Ge-
genüber, sondern nutzt ein Gefälle der Macht zum Vorteil der höher-
Hans-Joachim Sander | Gebrochenes Ver(-)sprechen
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 1:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 1:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 236
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven