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137 | www.limina-graz.eu Scham einhergeht. Die Täter können schamlos weggehen, während die Op-
fer jetzt auch noch damit belastet sind, fĂĽr ihre Ohnmacht allein verant-
wortlich zu sein.
Dieses Muster darf keine Zukunft mehr in der Religions-, Glaubens- oder
Pastoralgemeinschaft der Kirche haben. Zumindest die kalte Schulter hat
öffentlich aufgehört zu existieren. Die kirchlichen Verantwortlichen sind
durchaus entschlossen, diesem Muster der frĂĽheren Bearbeitung der
Fälle kein kirchliches Feld mehr zu überlassen. Das muss man nicht nur
konzedieren; das kann man anerkennen. Es ist ein Anfang, aber lange
nicht das Ende der nötigen Umkehr. Denn jetzt befällt die kirchlich Verant-
wortlichen unweigerlich selbst die Ohnmacht, die im sexuellen Missbrauch
auf Seiten der Opfer zu Tage tritt. Kein katholischer Bischof weltweit weiĂź
derzeit, ob nicht morgen oder übermorgen oder später in seinem Ver-
antwortungsbereich ein neuer massiver Fall auftritt, der alles bisher schon
da Gewesene in den Schatten stellt. Es scheint alles möglich geworden zu
sein.
Dazu kann man theologisch nur sagen: Lasst euch nicht verunsichern! Denn
die Ohnmacht, die euch dabei unweigerlich befällt, ist eine wichtige Res-
source, um bei der eingeschlagenen Linie der Aufarbeitung auch zu bleiben.
Denn diese Ohnmacht fĂĽhrt an die Quellen des Glaubens, nicht jene Macht
der Täter. Man darf sich der Ohnmacht nicht schämen, der man sich nicht
entziehen kann, wenn man glaubt und sich selbst dem Glauben verspricht.
Denn die Versprechen des Glaubens dienen nicht der Ermächtigung der
Gemeinschaft des Glaubens, sondern der Autorisierung von Ohnmächti-
gen, die dadurch diese Gemeinschaft über ihre verschämten Begrenzungen
hinausführen können.
Diese Mission verlangt aber die Konfrontation nach innen mit den
Ver-sprechungen, die dieser Autorisierung entgegenstehen und jene Er-
mächtigung selbstgerecht machen. Die Differenz zwischen der religions-
gemeinschaftlichen Ermächtigung und der pastoralgemeinschaftlichen
Autorisierung der Ohnmächtigen ist ein feiner Unterschied, der einen
enormen Distinktionsgewinn einbringt, wenn er beachtet wird, und zu ei-
nem tiefen Distinktionsverlust fĂĽhrt, wenn er verschliffen wird. Der Skan-
dal von Kardinal Groër ist für beides ausgesprochen lehrreich. Man darf
diesen Skandal nicht in der Vergangenheit der Kirche ruhen lassen, wenn
Hans-Joachim Sander | Gebrochenes Ver(-)sprechen
Die Versprechen des Glaubens dienen nicht der Ermächtigung der Gemeinschaft
des Glaubens, sondern der Autorisierung von Ohnmächtigen.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 1:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 1:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 236
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven