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216 | www.limina-graz.eu griffen. Beide Grenzen markieren ohne Zweifel entscheidende Schwellen in
der biotechnischen Selbstgestaltung des Menschen.
Fragt man nach dem aktuellen Stand der klinischen Anwendung am Men-
schen, so gibt es bereits einzelne erfolgreiche Versuche einer somatischen
Gentherapie mit CRISPR/CAS9, z. B. bei Leukämien, wo blutbildende Zel-
len entnommen, gentechnisch verändert und wieder zurücktransferiert
werden (Macrae 2015). Dagegen werden Keimbahneingriffe auf klinischer
Ebene derzeit aus Gründen des völlig unabsehbaren Risikos für nicht ver-
tretbar gehalten und auch nicht durchgeführt (Baltimore et al. 2015). Im
Jahr 2015 hat allerdings eine chinesische Forschergruppe zum ersten Mal
mit experimentellen Zielsetzungen in die Keimbahn von nicht entwick-
lungsfähigen menschlichen Embryonen eingegriffen (Liang et al. 2015).
Aus medizinischer Sicht sind für vertretbare klinische Keimbahneingriffe
noch große Hürden zu überwinden. Die Eingriffe sind nur zum Teil wirksam
(incomplete targeting) oder sie haben Effekte an unerwünschten Stellen (off
target effects), was unbekannte Risiken mit sich bringt (Schöne-Seifert 2017,
95). Nicht nur wird die Funktion von Genen von anderen Genen modifiziert
(modifier gene), gravierender ist die Tatsache, dass somatische Merkmale
meist grundsätzlich durch das Zusammenwirken mehrerer Gene gesteuert
werden, und man nicht weiß, wie sich punktuelle Eingriffe im Rahmen
eines solchen Netzwerks an Faktoren auswirken. Das Problem verschärft
sich dadurch, dass Gene in ihrer Wirksamkeit durch so genannte epigene-
tische Faktoren gesteuert werden, über die ebenfalls noch wenig bekannt ist.
Sie sind dafür verantwortlich, welche Genabschnitte in einer Zelle abgele-
sen und damit aktiv werden und welche stillgelegt werden. Die Epigenetik
gilt zudem als mögliche Schnittstelle, über die biographische und sozio-
kulturelle Faktoren sich auf die genetische Ebene auswirken. Der Zusam-
menhang zwischen genetischer Information und dem konkreten Phänotyp
eines Menschen ist nach heutigem Wissensstand viel komplexer als ur-
sprünglich angenommen, da man immer mehr Faktoren entdeckt, die in
die Regulierung der Genexpression hineinspielen. Schließlich ist bekannt,
dass Gene zugleich für wünschenswerte und nicht wünschenswerte Eigen-
schaften disponieren können, sodass der positive Effekt nur unter Inkauf-
nahme eines negativen erreichbar ist. Einer schwedischen Studie entspre-
chend, gehen genetische Faktoren, die sich häufig bei Künstlern finden,
Walter Schaupp | Genom-Editierung als Schlüsseltechnik der Zukunft
Eingriffe in die Keimbahn und genetisches Enhancement werden möglich.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 1:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 1:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 236
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven