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220 | www.limina-graz.eu und aufgeklärten Individuum überlassen, vertraut man in Wirklichkeit auf
eine Selbststeuerung des Fortschritts über die aufgeklärten Interessen von
mündigen Bürgerinnen und Bürgern, die vom Staat nicht paternalistisch
bevormundet werden dürfen.
Dieser gesellschaftliche Umgang mit dem biotechnologischen Fortschritt
wird gegenwärtig von Seiten einer Analytik der Macht im Anschluss an
Michel Foucault grundlegend in Frage gestellt. Sein ab Mitte der 1970er-
Jahre vorgestelltes Konzept der Biomacht, die damit verbundenen Ana
lysen
zu den Regierungstechniken moderner liberaler Staaten (Gouvernemen-
talität) und zu den Selbsttechniken des Subjekts (vgl. Raffnsøe/Gud
mand-
Høyer/Thaning 2011; Gehring 2006; Hirseland/Schneider 2006; Lemke
2007; Lemke 2008) sollen daher zum Ausgangspunkt der folgenden Über-
legungen zu CRISPR/CAS9 unter dem Vorzeichen von Macht werden.
Für von Foucault inspirierte Analysen erscheinen neue Techniken wie
CRISPR/CAS9 nur als ein weiteres Phänomen einer neuzeitlich schon länger
nachweisbaren Biomacht, die sich im staatlichen Zugriff auf das Ganze des
Bevölkerungskörpers wie auch auf die einzelnen Individuen manifes
tiert.
Ziel der Biomacht ist es, Leben als „Ressource“ nicht nur zu bewahren,
sondern im Sinn der Schaffung eines „biologischen Mehrwerts“ zu „stei-
gern“ (Gehring 2006, 10). Während Staaten früher die Individuen mittels
äußerer Disziplinierung und Gewaltanwendung regierten, bedienen sich
moderne Staaten zunehmend indirekter Formen der Lenkung, einer „Füh-
rung der Selbstführung anderer“ (Raffnsøe/Gudmand-Høyer/Tha
ning
2011, 309), durch die die Individuen dazu gebracht werden, die Ziele der
Steigerung und Optimierung des Lebens unter dem Vorzeichen von Selbst-
bestimmung zu verfolgen. Nach Thomas Lemke spielen dabei die folgen-
den drei Größen eine zentrale Rolle: Wahrheitsregimes, Regierungstechniken
und Subjektivierungsprozesse. Diese müssten aufgedeckt werden, um die in
einer Gesellschaft existierenden indirekten Formen von Lenkung sichtbar
zu machen (Lemke 2008, 83).
Wahrheitsregimes stellen dabei eine bestimmte kognitiv-begriffliche Ma-
trix für das Selbstverständnis und die anschließende Selbstpraxis der Indi-
viduen bereit. Sie manifestieren sich in dominanten Diskursformationen,
die derzeit z. B. stark genetisch und neurobiologisch geprägt sind. Regie-
rungstechniken beziehen sich auf staatliche Regulierungen und institu-
tionelle Einflussnahmen, wie z. B. die Einführung von Qualitätsstandards
Walter Schaupp | Genom-Editierung als Schlüsseltechnik der Zukunft
Ethische Entscheidungsfindung versus Biomacht
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 1:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 1:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 236
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven