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227 | www.limina-graz.eu Eine Analytik der Macht kann schließlich den Blick dafür schärfen, dass es
fĂĽr die Zukunft nicht nur die Einsicht in die Richtigkeit bestimmter Ent-
wicklungen braucht, sondern dabei immer auch entsprechende Kräfte
mobili siert werden mĂĽssen. Gerade auf der individuellen Ebene wird die
faktische Durchsetzung einer bestimmten Option, z. B. der Verzicht auf
Prä nataldiagnostik bei Schwangerschaft, nur gelingen, wenn für das Sub-
jekt alternative Wahrheitsregimes und Selbsttechniken verfĂĽgbar sind, um
in der Terminologie von Foucault zu bleiben. Dabei kann es um so einfache
Dinge gehen wie Stressreduktion, um Raum fĂĽr echte Aufmerksamkeit zu
schaffen (Bauer 2015, 90–93), darum, das Gespräch mit anderen zu suchen,
sich mit alternativen Meinungen, Argumenten und Menschenbildern aus-
einanderzusetzen und sich so im Sinne Bieris ein neues und freieres Selbst
zu erarbeiten. Wie Bauer aus neuropsychologischer Sicht treffend formu-
liert, entspringen nicht nur unser spontaner Wille, sondern auch alter-
native Willensbildungen „sozialen Verständigungsprozessen, die immer
auch mit Beeinflussungen verbunden sind“ (Bauer 2015, 109).
„We encourage an open discussion around the appropriate course of
action “, schreiben Edward Lanphier und Kollegen, „an open, early dis-
cussion as new scientific capabilities emerge. (Lanphier 2015, 411). – Erst
vor dem Hintergrund der prinzipiellen Möglichkeit einer autonomen Wil-
lensbildung auf Ebene des Individuums machen partizipative Prozesse und
Prozesse kollektiver Selbstverständigung, wie sie von Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftlern immer häufiger gefordert werden und wie sie in
modernen zivilen Gesellschaften auch auf vielen Ebenen stattfinden, einen
Sinn. Es wäre falsch, hinter solchen Forderungen nur Alibi-Strategien oder
eine Flucht der Wissenschaft aus der Verantwortung zu sehen, und es wäre
ebenso falsch, diese Diskurse als ein vollständig durch die Biomacht ok-
kupiertes Terrain zu sehen. Vielmehr bleibt in pluralen Gesellschaften kein
anderer Weg als die geduldige Arbeit an einer fortschreitenden kommuni-
kativen Selbst aufklärung und Selbstverständigung der Gesellschaft ange-
sichts neuer biotechnologischer Herausforderungen als Basis fĂĽr entspre-
chende normative Weichenstellungen.
Walter Schaupp | Genom-Editierung als SchlĂĽsseltechnik der Zukunft
Individuelle und autonome Willensbildung sowie
partizipative Prozesse und kollektive Selbstverständigung
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 1:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 1:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 236
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven