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8 | www.limina-graz.eu Kirchen, Religionsgemeinschaften und Theologien in diesen Spannungs-
feldern? Aus christlich-theologischer Sicht scheinen transnationale und
globale Solidarität die einzige Antwort auf die Renationalisierung der Po-
litik zu sein. Gleichzeitig ist aber zu fragen, ob eine einseitige theologische
Hinwendung zu supra- oder postnationalen Konzepten die faktisch unge-
brochene Bedeutung des Nationalstaats verkennt und nicht mehr adäquat
zu denken vermag. Gibt es eine kritisch-konstruktive Theologie des Staa-
tes, die diesen in seiner Leistungsfähigkeit und Relevanz zu würdigen weiß,
ohne ihn nationalistisch zu verengen oder aber zu verwerfen?
All diese Spannungen erfordern nichts weniger als das Denken des Un-
denkbaren; in den Worten Weizsäckers:
„Seit die Menschheit besteht, hat es, soweit wir wissen, den Weltfrieden
nicht gegeben; etwas Beispielloses wird von uns verlangt. Die Geschichte
der Menschheit lehrt, dass das bisher Beispiellose oft eines Tages ver-
wirklicht wird. Dies geschieht nicht ohne außerordentliche Anstrengung;
und wenn der Friede menschenwürdig sein soll, muss die Anstrengung
moralisch sein.“2
Auf die Verwirklichung prophetisch-visionärer universaler Utopien, die in
den heiligen Schriften der jüdisch-christlichen Tradition grundgelegt sind,
zielen etwa gerade die Grundideen der Vereinten Nationen: In Aufnahme
biblischer Überlieferung trägt die Bronze-Skulptur des russischen Bild-
hauers Jewgeni Wiktorowitsch Wutschetitsch im Garten des UNO-Haupt-
gebäudes in New York, die einen Mann beim Umschmieden eines Schwer-
tes zu einer Pflugschar darstellt, den Titel „We shall beat our swords into
plowshares“ (1957; bekannt geworden als stilisiertes Symbol der Friedens-
bewegung der DDR, 1980).3 In den biblischen Prophetenbüchern findet sich
der Referenztext gleich doppelt:
„Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg des Hauses des HERRN
steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm
strömen alle Nationen. Viele Völker gehen und sagen: Auf, wir ziehen hi-
nauf zum Berg des HERRN und zum Haus des Gottes Jakobs. Er unterwei-
se uns in seinen Wegen, auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn vom
Zion zieht Weisung (Tora) aus und das Wort des HERRN von Jerusalem.
Er wird Recht schaffen zwischen den Nationen und viele Völker zurecht-
lImIna 2:1 | neue nationalismen und die vision der einen menschheit | editorial
„Die Geschichte der Menschheit lehrt, dass das bisher Beispiellose
oft eines Tages verwirklicht wird.“
2 Ebd.
3 Siehe die Abbildungen in Klaus
Koenen, Art. Schwerter zu Pflug-
scharen, in: WiBiLex, online: htt-
ps://www.bibelwissenschaft.de/de/
stichwort/11412/ [8.3.2019].
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 194
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven