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67 | www.limina-graz.eu Ratlosigkeit angesichts der FlĂŒchtlingskrise?
Die FlĂŒchtlingskrise des Jahres 2015 ist Europa zur Herausforderung ge-
worden â moralisch, rechtlich und politisch. Und sie ist noch nicht aufge-
arbeitet, ganz im Gegenteil. Der Philosoph Thomas Meyer, der den lange
vergessenen Essay Wir FlĂŒchtlinge von Hannah Arendt wieder aufgelegt hat,
diagnostiziert seinem eigenen Fach eine gewisse Ratlosigkeit. Es sei
âaus der Philosophie wenig zu hören, was das Stimmengewirr zwischen
den Ausrufen âWir schaffen das!â und âUntergang des Abendlandesâ un-
terbrechen wĂŒrde. Zwar finden sich immer wieder ĂuĂerungen von Ver-
tretern des Fachs, doch man merkt ihnen an, dass sie kaum eine Spra-
che fĂŒr die aktuelle Situation haben â nicht fĂŒr die politischen Ursachen,
nicht fĂŒr das Elend, fĂŒr die Möglichkeiten und Gefahren dessen, was ge-
rade passiert. Soziologen, Politologen und Kulturwissenschaftler finden
offensichtlich weitaus leichter Begriffe, um die neue Lage zu beschreiben
und zu analysieren. Und so will der Eindruck nicht schwinden, dass zu
der Frage, die das Schicksal Deutschlands, Europas oder gar der gesam-
ten westlichen Welt besiegeln könnte, den Philosophen wenig einfĂ€llt.â
(Meyer 2016, 43)
Auch wenn seit 2015 die FlĂŒchtlingsthematik und mit ihr das Problem der
neuen Nationalismen verstÀrkt zum Forschungsgegenstand von Philoso-
phie und Theologie geworden sind (vgl. etwa Grundmann/Stephan 2016;
Heimbach-Steins 2016; Ott 2016; Heimbach-Steins 2017; Nida-RĂŒmelin
2017), ist nicht zu ĂŒbersehen, dass die Vertreterinnen und Vertreter die-
ser FÀcher hinsichtlich der mit diesem Problemkomplex zusammenhÀn-
genden Fragen noch um Orientierung ringen. Laut Nida-RĂŒmelin befinden
sich die politische Praxis und der öffentliche Diskurs insgesamt in einer
Orientierungskrise, die sich zu einer GefÀhrdung der liberalen und sozia-
len Demokratie auswachsen könne (vgl. Nida-RĂŒmelin 2017, 8). Diese Ori-
entierungskrise mag damit zusammenhÀngen, dass vor einem Jahrzehnt
weder mit den Migrationsbewegungen der letzten Jahre noch mit dem
Erstarken rechter KrÀfte zu rechnen war. Sie mag auch damit zusammen-
hÀngen, dass sich AnhÀngerinnen und AnhÀnger nationalistischer Grup-
pierungen rationalen Argumenten zu verschlieĂen scheinen. SchlieĂlich
mag sie damit zusammenhÀngen, dass sich gegenlÀufige Reaktionsweisen
der Gesellschaft â Willkommenskultur versus restriktive Zuwanderungs-
politik â âauch innerhalb einer Person als moralischer Zwiespalt findenâ
(Ott 2016, 9). Wie also lÀsst sich angesichts dieser Herausforderungen ein
margit Wasmaier-sailer | recht tun â recht verlangen
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 194
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven