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71 | www.limina-graz.eu Menschenrechten begründet (vgl. Arendt 2005, 570, 603–607, 619–621).
Durch die Bindung der Menschenrechte an die Nationalstaaten aber seien
im 20. Jahrhundert nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges all die-
jenigen Menschen aus dem Menschenrechtsschutz herausgefallen, die
keinem Nationalstaat angehörten, sei es, weil sie aufgrund der durch den
Friedensvertrag von Versailles etablierten neuen Staatsgrenzen plötzlich
zu einer Minderheit in ihrem eigenen Land, sei es, weil sie wie die Juden zu
Staatenlosen geworden waren (vgl. Arendt 2005, 564–601). Die Minder-
heiten und die Staatenlosen hätten selbst der Protektion durch das eigene
Volk weit mehr vertraut als dem Schutz der Menschenrechte:
„Nicht eine einzige Gruppe von Flüchtlingen ist je auf die Idee gekom-
men, an die Menschenrechte zu appellieren; wo immer sie sich organi-
sierten, haben sie fĂĽr ihre Rechte als Polen oder als Juden oder als Deut-
sche gekämpft. Mit den Großmächten hatten die Staatenlosen zumindest
eines gemeinsam, die gleichgĂĽltige Verachtung fĂĽr die Gesellschaften
zum Schutz der Menschenrechte.
Staatenlosigkeit in Massendimensionen hat die Welt faktisch vor die un-
ausweichliche und höchst verwirrende Frage gestellt, ob es überhaupt
so etwas wie unabdingbare Menschenrechte gibt, das heiĂźt Rechte, die
unabhängig sind von jedem besonderen politischen Status und ein-
zig der bloßen Tatsache des Menschseins entspringen.“ (Arendt 2005,
606–607)
Nach Arendts Diagnose waren die Minderheiten und die Staatenlosen zu-
nehmend in einen rechtsfreien Raum geraten, eben weil die Nationalstaa-
ten nur ihre eigenen Angehörigen schützten und die Menschenrechte nicht
die notwendige ĂĽberstaatliche Wirkung hatten. Dieser rechtsfreie Raum
ist nach Arendt die eigentliche Bedrohung. Ihm könne man nur beikom-
men, wenn man das Recht der Menschen in einem noch grundsätzlicheren
Sinn verstehe, als es die großen Menschenrechtserklärungen des späten 18.
Jahrhunderts getan hätten: „Wenn es überhaupt so etwas wie ein eingebo-
renes Menschenrecht gibt, dann kann es nur ein Recht sein, das sich grund-
sätzlich von allen Staatsbürgerrechten unterscheidet.“ (Arendt 2005, 607)
Arendt sieht dieses noch grundsätzlichere Recht im „Recht auf Rechte“,
und es ist für sie „das Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören“
(Arendt 2005, 617). Zur Menschheit zu gehören, heißt für sie, „in einem
margit Wasmaier-sailer | recht tun – recht verlangen
Der einzelne Mensch ist als Rechtssubjekt zu achten,
unabhängig von nationaler Zugehörigkeit.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 194
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven