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axel Bernd Kunze | staat â IdentitĂ€t â recht
âDie Aufforderung Jesu zur Versöhnung und zum Verzicht auf Rache
bedeutet jedoch nicht, daà Recht und Ordnung aufgehoben wÀren. Der
einzelne Mensch und auch der Staat können auf dieses oder jenes Recht
verzichten, dĂŒrfen aber niemals das Recht selbst, die Wahrheit selbst
dem Unrecht und der LĂŒge ausliefern. [âŠ] Die staatliche Gewalt, die das
Zusammenleben der Menschen durch die Rechtsordnung sicherstellt, ist
âvon Gott eingesetzt ⊠Nicht ohne Grund trĂ€gt sie das Schwert. Sie steht
im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tutâ (Röm
13, 1.4)â (Höffner 1997, 283â284 [Herv. i. O.]).
In der zeitgenössischen Sozialethik gehört der evangelische Theologe Ri-
chard Schröder zu jenen Vertretern des Faches, die auf derselben Linie fĂŒr
eine strikte Grenzziehung zwischen staatlichem Handeln und caritativer
Praxis plĂ€dieren: âEinzelne können barmherzig sein, auch Institutionen,
die sich der Barmherzigkeit verschrieben haben. Der Staat aber darf nicht
barmherzig sein, weil er gerecht sein muss. Er muss nach Regeln verfah-
ren und die Folgen bedenkenâ (Schröder 2016). Dies schlieĂt harte Ent-
scheidungen unweigerlich ein. Selbst HĂ€rtefallkommissionen im Bleibe-
recht sind an Regeln mit definierten ErmessensspielrÀumen gebunden. Bei
staatsethischen Fragen bleiben stets Aspekte wie staatliche SouverÀnitÀt
und LeistungsfÀhigkeit, StaatsrÀson und ordre public, Wahrung des Rechts
und der ideellen Ordnung des Staates zu bedenken.
Werden tugendethische Begriffe wie NĂ€chstenliebe, Barmherzigkeit oder
auch Gastfreundschaft hingegen als normethische Kategorien verwendet,
fĂŒhre dies leicht zu einer Moralisierung, gesinnungsethischen Einseitig-
keit oder EntrĂŒstungsrhetorik im politischen Diskurs, wie vor allem Ulrich
H. J. Körtner immer wieder, zuletzt in seinem Band FĂŒr die Vernunft (2017),
kritisiert hat. Ohne politische Vernunft und DifferenzierungsfÀhigkeit lei-
de, so der Wiener Sozialethiker, die politische KompromissfÀhigkeit.
Dass staatsethischen Fragen innerhalb der zeitgenössischen Sozialethik
oftmals eine so geringe Rolle zugebilligt wird, kann insbesondere vor dem
Hintergrund einer traditionsreichen und profilierten christlichen Staats-
lehre durchaus verwundern. Dabei spielt es keine Rolle, ob man die beson-
dere Rolle des Staates in protestantischer Tradition in der im Römerbrief
geforderten Gehorsamspflicht der Christen gegenĂŒber dem Staat und der
Zweireichelehre oder in katholischer Tradition im thomistischen Aristote-
lismus verankert sieht. Im Folgenden soll zunÀchst, unabhÀngig von aktu-
ellen migrationspolitischen Herausforderungen, die bleibende Bedeutung
des Staates fĂŒr ein stabiles, handlungsfĂ€higes und befriedetes Gemeinwe-
sen nÀher herausgearbeitet werden.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 194
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven