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axel Bernd Kunze | staat â Identität â recht
Die âSpielregelnâ im gesellschaftlichen Zusammenleben, auf die wir uns
verlassen dĂźrfen, mĂźssen klar sein. Jedes Gemeinwesen, das stabil blei-
ben will, braucht einen gesellschaftlichen Mindestkonsens. Wichtig sind
zunächst einmal zentrale Grundregeln einer formalen Sittlichkeit. Zu die-
sen mĂźssen wir uns als Gemeinwesen verbindlich bekennen, diese mĂźssen
wir deutlich einfordern und diese muss der Staat auch bereit sein durch-
zusetzen â sonst verliert er als Rechtsstaat an Vertrauen: beispielsweise
eine gewaltfreie Streit- und Debattenkultur, ein robustes MaĂ an Ambi-
guitätstoleranz, den Willen zu Verständigung und Toleranz, Fairness und
gegenseitigen Respekt, Achtung vor der Verfassung und den unveräuĂerli-
chen Rechten anderer.
Doch genĂźgt ein GerĂźst formaler Verfahrensregeln keineswegs. Die Regeln
unseres Verfassungsstaates mĂźssen unterfĂźttert werden durch ein Funda-
ment konkret gelebter Orientierungswerte. Diese bestimmen das sozial-
ethische Verhalten der BĂźrger im Alltag und sind Ausdruck gemeinsamer
Identität. Man kann von einem Vorrat an kulturellen Selbstverständlich-
keiten sprechen, der uns im Alltag den Rßcken freihält. An dieser Stelle ist
es durchaus berechtigt, von âLeitkulturâ zu sprechen, womit noch nichts
darĂźber ausgesagt ist, wie diese abgesteckt werden kann. Dass eine sol-
che âLeitkulturâ nicht statisch sein kann, ist eine triviale Erkenntnis. Und
selbstverständlich sollte eine Leitkultur so offen formuliert werden, dass
sie dem heutigen Freiheitsempfinden gerecht wird: weder ausgrenzend
oder abschlieĂend noch beliebig oder austauschbar. Es geht um eine ge-
sprächsfähige Positionalität, die gleichzeitig bereit ist, fßr die eigenen
Werte deutlich einzustehen.
Wo kulturelle Gemeinsamkeiten, gegenseitige Verbundenheit und wech-
selseitig Ăźbernommene Verpflichtungen schwinden, wo das Vertrauen in
intuitiv gewusste, unproblematisch gelebte Gemeinsamkeiten schwindet,
gehen letztlich Freiheitsräume verloren. Ein Gemeinwesen, in dem man
sich nicht mehr aufeinander verlassen kann, muss kontrollieren, regulie-
ren und steuern. Staatlicherseits geschieht dies beispielsweise durch zu-
nehmende Kontrolle im Inland, eine verstärkte Ăberwachung der Privat-
sphäre oder Einschränkungen der Meinungs- und Publikationsfreiheit.
Zentrale Grundregeln: eine gewaltfreie Streit- und Debattenkultur,
Ambiguitätstoleranz, Fairness und gegenseitiger Respekt, Achtung
vor der Verfassung und den unveräuĂerlichen Rechten anderer.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 194
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven