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Franz Gmainer-Pranzl | „... mit dem menschengeschlecht und seiner Geschichte wirklich innigst verbunden ...“
hatte übrigens Karl Popper in seinem 1945 veröffentlichten Werk Die offe-
ne Gesellschaft und ihre Feinde Motive moderner Totalitarismen untersucht;
seine Analysen weisen eine teils beklemmende Aktualität auf: Neben natio-
nalistischen und rassistischen Positionen seien es die Überzeugung, dass
der Staat „als der natürliche Feind aller anderen Staaten […] seine Existenz
im Krieg behaupten“ (Popper 2003, 75) müsse und der Staat außer seinem
„Erfolg“ (ebd., 79) keine sittliche Verpflichtung habe, sowie das „Führer-
prinzip“ (ebd., 86) und das „Ideal des heroischen Menschen“ (ebd., 88),
die die Auseinandersetzung zwischen Gruppen, Völkern und Staaten be-
stimmen, so Popper.
Der theologische Diskurs, der diesen Entwicklungen oft ohnmächtig ge-
genübersteht, fühlt sich dadurch umso mehr an die Vision des Zweiten
Vatikanischen Konzils erinnert, das wiederholt von der „einen Mensch-
heitsfamilie“ sprach und die Kirche als „Sakrament des Heils“ (LG 48)1
für die Welt vorstellte. Nach einer deutlichen Kritik des Konzils an einem
ekklesialen bzw. ekklesiozentrischen Triumphalismus, der die Institution
Kirche gleichsam als Heilsinhalt ansah und durch machtpolitische Bünd-
nisse massiven Einfluss auf das Leben der jeweiligen Gesellschaft zu neh-
men versuchte, wurde der ‚sakramentale‘ Charakter der Kirche betont –
was aber genau nicht (mehr) die mystische Überhöhung einer Institution
meinte, sondern vielmehr die (im besten Sinn des Wortes) Relativierung
dieser Institution: Sie steht in Beziehung zum Reich Gottes, dessen Werk-
zeug sie ist, und sie steht in Beziehung zur Welt und zu den Menschen, de-
ren Heilszeichen sie ist.2 Walter Kasper brachte das Verständnis der Kirche
als Sakrament, mit dem die Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanums
pointiert einsetzt,3 klar zur Sprache:
„So wie der Begriff Sakrament auf dem II. Vatikanischen Konzil für die
Kirche gebraucht wird, ist er ein begriffliches Mittel neben anderen, um
den ekklesiologischen Triumphalismus, Klerikalismus und Juridismus
zu überwinden und das in der sichtbaren Gestalt verborgene und nur im
Glauben fassbare Geheimnis der Kirche herauszustellen, um auszudrü-
cken und auszudeuten, dass die Kirche einerseits ganz von Christus her-
kommt und bleibend auf ihn bezogen ist, dass sie andererseits als Zei-
chen und als Werkzeug aber auch ganz für den Dienst an den Menschen
und an der Welt da ist.“ (Kasper 1987, 244)
1 Alle Konzilstexte werden zitiert
nach Hünermann 2004.
2 Eine wichtige Grundlage für diese
Sicht bildete bekanntlich Semmel-
roth 1953; eine intensive Aufarbei-
tung und Weiterführung der kon-
ziliaren Sakraments-Ekklesiologie
erfolgte durch Boff 1972.
3 Der Text ist nicht zuletzt deshalb
pointiert, weil Karl Rahner nach-
weislich den ursprünglichen Text-
entwurf der dogmatischen Konstitu-
tion über die Kirche abänderte:
Im Satz „Lumen gentium cum sit
ecclesia“ strich Rahner „ecclesia“
durch und ersetzte es durch „Chris-
tus“. Das „Licht der Völker“ ist
demnach nicht die Kirche, sondern
Christus. Das Blatt mit der hand-
schriftlichen Korrektur Rahners,
die zweifellos Theologiegeschichte
schrieb, ist erhalten (vgl. Was-
silowsky 2014, 51–52).
Wirkt demgegenüber der theologische
Diskurs altmodisch und paternalistisch?
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 194
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven