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Franz Gmainer-Pranzl | â... mit dem menschengeschlecht und seiner Geschichte wirklich innigst verbunden ...â
3. âKenosisâ â eine Kirche fĂŒr die Welt
âWelt-Kircheâ zu sein bedeutet nicht nur, âaus aller Weltâ zusammen-
zukommen, sondern auch, fĂŒr diese Welt da zu sein. Diese Einsicht wird
wohl niemand bestreiten, und die gÀngige pastorale Sprache betont auch
durchgĂ€ngig, wie wichtig es sei, fĂŒr die Menschen, fĂŒr die Armen, fĂŒr die
Ausgegrenzten usw. da zu sein. Wenn dieser Grundsatz allerdings vor dem
Hintergrund aktueller rechtspopulistischer, nationalistischer und identi-
tÀrer Strömungen auf die konkrete Gesellschaft bezogen wird, zeigen sich
die Konsequenzen dieser Option. Als kirchliche Gemeinschaft die Vision
der einen Menschheit zu vertreten, bedeutet, in Konflikte zu geraten, einen
Transformationsprozess zu durchlaufen und das Konzept âWelt-Kircheâ
von der Peripherie her zu reformulieren. âHeilszeichenâ, âSakramentâ, âIn-
strumentâ fĂŒr die Einheit und Versöhnung der Menschen zu sein, meint
keine paternalistische Strategie der Bevormundung von Menschen durch
eine âalles erklĂ€rende Botschaftâ, sondern die Bereitschaft, sich von einer
gröĂeren Vision und der konkreten Not der Gegenwart in Anspruch neh-
men zu lassen.
Nach dem Konzil wurde der Gedanke, dass sich die Kirche von der âFreude
und Hoffnung, Trauer und Angstâ (GS 1) der Welt in Dienst nehmen las-
sen sollte, auf vielfÀltige und kreative Weise rezipiert und weiterentwickelt.
Einige wenige Beispiele mögen diese theologische Perspektive, die erst in
jĂŒngerer Zeit vom biblischen Begriff kenosis (Leerwerden, Ent
Ă€uĂerung)
her neu profiliert wurde, verdeutlichen. So lenkte etwa die Zweite General-
versammlung der lateinamerikanischen Bischöfe im August 1968 in Me-
dellĂn (Kolumbien), deren fĂŒnfzigjĂ€hriges JubilĂ€um erst kĂŒrzlich begangen
wurde, Theologie und Kirche auf die Bahn einer befreiungstheologischen
Orientierung und verstand zum Beispiel âArmutâ, die bisher nur als Anlass
zu caritativer UnterstĂŒtzung gesehen wurde, âals Engagement, das die Be-
dingungen der Armen dieser Welt freiwillig und aus Liebe annimmt, um
Zeugnis zu geben von dem Ăbel, das sie darstellt, und von der geistigen
Freiheit gegenĂŒber den GĂŒternâ (Die Kirche Lateinamerikas 1979, 116). Die
politische Dynamik, die diese Option der Kirche fĂŒr die Welt der Armen und
UnterdrĂŒckten auslöste, ist kaum zu beschreiben; eine Institution, die vor
dieser befreiungstheologischen Wende manchmal wie eine âeigene Weltâ
Kirche braucht die Bereitschaft, sich von einer gröĂeren Vision und
der konkreten Not der Gegenwart in Anspruch nehmen zu lassen.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 194
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven