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Richard Sturn | Generationengerechtigkeit, Generationenvertrag und Entsolidarisierung
dem Sozialvertrag herauszubrechen, der dem Gesamtarrangement zugrunde
liegt. Den einen wird suggeriert, dass es in einem privatisierten System für
sie viel bessere, weil maßgeschneiderte Lösungen gäbe. Den anderen wird
nahegelegt, sie kämen im vorherrschenden System ohnedies zu kurz. Da-
mit diese Behauptungen glaubhaft propagiert werden können, sind frei-
lich vorbereitende Manöver vonnöten. Von entscheidender Bedeutung ist
aber die stillschweigende Annahme, dass Sozialverträge (deren Um- bzw.
Durchsetzung klar in den Bereich der Politik fällt) sowieso unglaubwürdig
seien, wohingegen privatrechtliche Verträge Sicherheit fernab aller politi-
schen Aushandlungsprozesse böten.
Betrachten wir eine solche mögliche Strategie etwas genauer. Um die po-
litische Unterstützung für die umlagefinanzierte Pensionsversicherung zu
verringern, muss zunächst das Vertrauen der Begünstigten in ihre Nach-
haltigkeit untergraben werden. Dies kann durch die selektive Adressierung
unterschiedlicher Gruppen geschehen.
Die erste Gruppe besteht aus Personen, die bereits Sozialversicherungs-
leistungen erhalten, und denen, die sich dem Alter nähern, in dem sie diese
erhalten werden. Da dies alles Personen sind, die jede Änderung besonders
aufmerksam verfolgen und ggf. allergisch reagieren, sollte ihnen versi-
chert werden, dass ihre Leistungen vollständig unangetastet bleiben. Denn
es ist (auch im Lichte von Befunden eines Status-quo-Bias aus der experi-
mentellen Ökonomik) zu erwarten, dass diese Personengruppen am kon-
sequentesten gegen jegliche Änderung kämpfen würden, da sie entweder
bereits an entsprechende Pensionsbezüge gewöhnt sind oder diese fest in
ihre Erwartungen eingebaut haben. Gelingt es, diese Gruppe politisch zu
neutralisieren, würde die verbleibende Koalition stark geschwächt.
Die zweite Gruppe sind die GutverdienerInnen. Diesbezüglich sieht die
Strategie vor, zunächst die Höchstbemessungsgrundlage für die Beiträge
anzuheben oder abzuschaffen (oder auch die Beiträge für Geringverdie-
nende zu reduzieren oder zu streichen). GutverdienerInnen werden erken-
nen, dass sie mit einem höherem Finanzierungsanteil als bisher zu rechnen
haben. Damit würde die Umverteilungskomponente des öffentlichen Pen-
sionssystems gestärkt und dessen von Autoren wie Schreiber (1955) und
Schmähl (2011) betonter Versicherungscharakter geschwächt. So würden
v. a. die TeilnehmerInnen mit höheren Einkommen das System vor allem
als ein komplexes, undurchsichtiges Transferschema zwischen den unter-
Die selektive Adressierung unterschiedlicher Gruppen
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 222
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven