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Jochen Ostheimer | Den eigenen Untergang erzählen, um ihn zu verhindern
RĂĽckwirkungen von Handlungsfolgen auf die eigene Struktur und das eige-
ne Selbstverständnis nachdenkt.
Ausgehend von dieser Beobachtung wird im Folgenden näher betrachtet,
wie im gesellschaftlichen Anthropozändiskurs Zukunft mittels narrativer
Mittel gestaltet wird.2 Auch wenn dieser Diskurs eine starke wissenschaft-
liche Verankerung hat, ist er doch als eine Form der öffentlichen Kom-
munikation anzusehen und als solcher zu behandeln. Aus der Vielfalt an
Beispielen werden zwei Aspekte herausgegriffen. Zum einen wird nachge-
zeichnet, welche verschiedenen Versionen vom Klimawandel erzählt wer-
den und welche Auswirkungen auf das Entwerfen politischer Handlungs-
programme dies hat. Zum anderen wird analysiert, wie in der Klimafor-
schung im Modus von Szenarien Zukunft konzipiert wird und inwiefern die
Arbeit mit Szenarien als Kulturtechnik der entwickelten Moderne ein spe-
zifisches Zeitregime voraussetzt. Damit werden mit Blick auf die narrative
Gestaltung von Zukunftsvorstellungen im Anthropozän exemplarisch ein
Diskurs und eine Methode analysiert.
Klimaerzählungen
Die Formulierungen „Klimawandel“ und „Erderwärmung“ gelten für
gewöhnlich als synonym. Diese Gleichsetzung ist indes alles andere als
selbstverständlich, wie ein Rückblick auf die Klimaforschung und die öf-
fentliche Thematisierung des Klimawandels in den vergangenen rund 150
Jahren zeigt. In einer gewissen idealtypischen Vereinfachung lassen sich
fĂĽnf Varianten unterscheiden, wie die Lage der kommenden Generationen
dargestellt wurde und wird (vgl. Viehöver 2012b). Sie wurden und werden
nicht allein in einem wissenschaftlich-sachlichen Format diskutiert, son-
dern vielfach mit Bildern und plastischen Zukunftsvisionen versehen und
in Erzählungen eingebettet, die bestimmte Ursache-Wirkungs-Folgen
akzentuieren. Beinahe alle Versionen besitzen dabei eine ausgeprägte il-
lokutionäre Dimension. Sie stellen also nicht einfach einen zukünftigen
Entwicklungsverlauf dar, sondern verbinden ihn mit einer Bewertung, die
ihrerseits wiederum RĂĽckwirkungen auf das je aktuelle Handeln hat.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entspannen sich erste inten-
sive wissenschaftliche und teils auch öffentliche Diskussionen über das
2 Diskurse werden in einer ersten
Näherung als „institutionalisierte
Bedeutungssysteme“ (Keller 2009,
39) verstanden, als „abgrenzba-
re, strukturierte Ensembles von
sprach-, bild- und handlungsförmig
vorliegenden sinnstiftenden Ein-
heiten, die in einem spezifischen Set
von Praktiken produziert, repro-
duziert und transformiert werden.
Sie verleihen physikalischen und
sozialen Phänomenen Bedeutung
und konstituieren dadurch deren
Realität“ (ebd. 44, i. O. z. T. herv.).
Unter Erzählungen oder Narratio-
nen werden textuelle Darstellungen
sinnhaft verknĂĽpfter Ereignisse und
Handlungen verstanden, wobei der
hier zugrunde gelegte weite Textbe-
griff mĂĽndliche, schriftliche, grafi-
sche, bildhafte, filmische und gesti-
sche Ausdrucksformen umfasst; vgl.
Viehöver 2012a, 66–67.
Wie wird im Anthropozändiskurs Zukunft narrativ gestaltet?
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 222
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven