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Jochen Ostheimer | Den eigenen Untergang erzählen, um ihn zu verhindern
mann 2013, 48) In dieser Epoche entstand das Konzept der Geschichte im
Singular als eines abstrakten, singulären, einheitlichen und vereinheitli-
chenden Prozesses im Unterschied zu den vielen konkreten, meist exemp-
larischen und instruktiven Geschichten, und parallel dazu trat an die Stelle
des konkreten und anschaulichen Zukünftigen die abstrakte Zukunft, die
nicht mehr auf ein Telos zulief, sondern vom Fortschritt angetrieben war.
Geschichte als das Vergehen der Zeit, in dem die vielen Ereignisse stattfin-
den, wurde nicht mehr als Wiederholung von Bekanntem gedacht, sondern
öffnete sich dem Neuen und weckte Neugier.
Das moderne Zeitverständnis machte es sich zum Motto, „die Vergangen-
heit hinter sich zu lassen, eine Gegenwart des reinen Übergangs zu durch-
laufen und sich die Zukunft als Möglichkeitshorizont zu erschließen“
(Gumbrecht 2012, 305). Geschichte war da, um gemacht zu werden, Zu-
kunft war der Gegenstand autonomer menschlicher Planung. Wandel und
Veränderung wurden nicht mehr als Problem, sondern als eine wichtige
kulturelle Ressource begriffen (vgl. Assmann 2013, 23). Damit war ein Zeit-
regime entstanden, das die „Selbstermächtigung und Weltbemächtigung
[des Menschen] unterstützt und legitimiert“ (Assmann 2013, 245).
In dieser Konstellation lässt sich Zukunft in die Form eines Szenarios brin-
gen. Im Szenario wird nicht wie im Orakel der schon feststehende, aber
noch unbekannte Verlauf kommender Ereignisse gelesen, sondern der Zu-
kunftsraum wird mit Möglichkeiten gefüllt. In der vergleichenden Betrach-
tung diverser Zukunftsentwürfe können deren Wünsch- und Machbarkeit
abgeschätzt und entsprechende Handlungsprogramme konzipiert werden.
Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts hat sich, so die These von Assmann
(2013, 245–324), das Zeitregime der Moderne nochmals gewandelt. Die
Orientierung an der Zukunft büßt ihre Ausschließlichkeit ein, das Fort-
schrittsparadigma verliert seine Kraft, die Vergangenheit von der Gegen-
wart vollständig abzutrennen und als etwas Abgeschlossenes hinter sich
zu lassen. Im Zeitraum von der Neuzeit bis in die 1980er-Jahre war die
Zukunft das Reich der Projekte der vorausschauend-planenden Vernunft
und das Land der Verheißung, in dem Utopien angesiedelt werden konnten,
die eine Strahlkraft für je gegenwärtige Entscheidungen entfalteten. Heute
Im Zeitregime der Moderne war die Zukunft ein Möglichkeitshorizont.
Heute verschwimmt die Zukunft hinter einem Schleier der Komplexität.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 222
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven