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Şenol Yaĝdı | Von der Bildungsferne zum Bildungsaufstieg
Demnach weist auch die Weitergabe der Tradition an die jeweils nächste
Generation Diskontinuitäten auf, die nicht zuletzt durch die Migrations-
erfahrungen und die Notwendigkeit induziert sind, sich in der Aufnahme-
gesellschaft zu orientieren und handlungsfähig zu bleiben oder zu werden.
In die intergenerationellen Transmissionsprozesse (Weitergabe habitu-
eller Einstellungen und Grundhaltungen) sind deshalb Differenzen einge-
schrieben, die in Familien mit Migrationshintergrund zu konfligierenden
Einstellungs- und Handlungsoptionen führen können, deren Bearbeitung
für den Familienzusammenhalt als nötig erscheint.
Mit Blick auf das dritte Moment, das Verhältnis von Religion, Migration
und Zielgesellschaft, formuliert Freise:
„In der Ankunftsgesellschaft verändert sich die persönliche Religiosität
ebenso wie die institutionalisierte Form einer Religion. Eine große Be-
deutung hat die Aufnahmegesellschaft mit der Art und Weise, wie sie
Menschen mit ihren religiösen Gewohnheiten und Gebräuchen auf-
nimmt.“ (Freise 2017, 73)
Auch die inkorporierte und ins Zielland mitgebrachte Religion bleibt auf
dem Weg in die neue Gesellschaft, deren Praktiken von den gewohnten Re-
geln des Zusammenlebens abweichen, nicht unbeeinflusst. Sie wird ebenso
in die Transformationsprozesse hineingezogen wie die Identitäts- und die
Traditionsbildung.
Damit ist knapp der begriffliche Rahmen von Identität, Tradition und Re-
ligion erläutert. Im Folgenden werden die Eckpunkte dieses Artikels dar-
gelegt. Er basiert auf den Ergebnissen einer umfangreichen qualitativen
Studie, in deren Rahmen leitfadengestützte Interviews mit türkischstäm-
migen, an Wiener Universitäten Studierenden der zweiten Generation1 aus
einem bildungsfernen Elternhaus durchgeführt wurden (vgl. Yagdi 2019).
Im Zentrum des Interesses stehen dabei die Handlungsstrategien der Stu-
dierenden und die Bedingungen, die zu ihrem Bildungsaufstieg2 geführt
haben. Dessen Einflussfaktoren, Probleme und Herausforderungen werden
aus einer ressourcenorientierten Perspektive untersucht.
Als theoretische Grundlage der Studie dient Bourdieus Kapitaltheorie, mit
deren zentralen Konzepten der Kapitalsorten und des Habitus ein diffe-
renziertes Bild des Bildungsaufstiegs im Kontext von Migration und den
damit verbundenen sozialen Prozessen gezeichnet werden kann. Mithil-
fe des Konzepts der Habitustransformation3 und eines migrationsspezi-
fischen kulturellen Kapitals wird die Dynamik der Veränderungsprozesse
analysiert und versucht, den über den Bildungsaufstieg erreichten sozialen
1 „Zweite Generation“ bezieht sich
auf Kinder mit Migrationshinter-
grund, die in Österreich geboren
sind oder hier eine formale schuli-
sche Laufbahn (Volksschule, Mittel-
schule/Gymnasium etc.) absolviert
und anschließend die Hochschul-
zugangsberechtigung an Wiener
Universitäten erworben haben. Das
Kriterium der Zugehörigkeit ist da-
durch erfüllt, dass alle Interviewten
ihre Sozialisation im österreichi-
schen Schulsystem spätestens ab der
Volksschule begonnen haben.
2 Unter „Bildungsaufstieg“ wird
das Erreichen eines höheren for-
malen Bildungsabschlusses im Ver-
gleich zur Elterngeneration verstan-
den, die aus einem bildungsfernen
Milieu aus ländlichen Gebieten der
Türkei als GastarbeiterInnen von
Österreich angeworben wurde. Eng
damit verbunden sind ein sozialer
Aufstieg der zweiten Generation und
der Zugang zu besseren beruflichen
Positionen.
3 Die Auffassung des Habitus als
statisches Konzept, das ausschließ-
lich die Reproduktion der sozialen
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 222
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven