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Edith Petschnigg | Generationen im jüdisch-christlichen Dialog seit 1945
Obwohl Bloch auf die Ambiguität des Generationenbegriffs verweist, sieht
er in ihm dennoch ein außerordentliches Potenzial für die Geschichtswis-
senschaft:
„Der Generationenbegriff ist äußerst dehnbar, wie jeder Begriff, der
Menschliches unverzerrt auszudrücken versucht. Er wird aber auch Tat-
sachen gerecht, die wir als sehr konkret bezeichnen. Schon seit langem
wird er gleichsam instinktiv in Forschungsrichtungen verwendet, die
sich von Natur aus mehr als alle anderen den alten Einteilungen nach
Herrschafts- und Regierungszeiten widersetzen, wie etwa die Geistes-
geschichte oder die Kunstgeschichte. Vielleicht könnte er in zunehmen-
dem Maße einer rationalen Analyse der wechselvollen Geschichte der
Menschheit ihre erste Maßeinheit bieten“ (Bloch 2002, 203).
Blochs Empfehlung für zukünftige Forschungen – der jüdische Historiker
selbst wurde im Juni 1944 als Angehöriger der Résistance nahe Lyon von
der Gestapo erschossen (vgl. Le Goff 2002, IX) – scheint in den Jahrzehnten
nach dem Zweiten Weltkrieg auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein.
Das Generationenmodell erfährt in der Geschichtswissenschaft seit einigen
Jahrzehnten „zunehmende Aufmerksamkeit“ (Lüscher 2005, 53), um nicht
zu sagen eine „Renaissance“ (vgl. Schulz/Grebner 2003). Es dient vielfach
der retrospektiven Periodisierung von Geschichte und findet seinen Aus-
druck daher nicht nur in der Beschreibung, sondern auch in der Zählung
von Generationen, etwa in der Rede von einer ersten, zweiten oder dritten
Generation. Dieses Phänomen der Geschichtsstrukturierung durch Gene-
rationenzählung findet sich bekanntermaßen vor allem in der Geschichts-
schreibung nach dem Zweiten Weltkrieg und der Schoah (vgl. Weigel 2003,
178).
Generationen im jüdisch-christlichen Dialog nach 1945
Im Folgenden möchte ich auf das oben genannte Modell der Geschichts-
periodisierung durch Generationenbildung zurückgreifen und folge der
in der historischen Forschung üblichen Terminologie, die unter der ersten
Generation all jene Personen versteht, die in der Zeit des Nationalsozialis-
Das Generationenmodell erfährt in der Geschichtswissenschaft
seit einigen Jahrzehnten zunehmende Aufmerksamkeit.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 222
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven