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Edith Petschnigg | Generationen im jĂĽdisch-christlichen Dialog seit 1945
auf christlicher Seite Einblick in ihr Erleben der Dialoginitiativen, das we-
sentlich von transgenerationalen Faktoren bestimmt war, was sich etwa in
der Übertragung von Schuldgefühlen (vgl. Jureit 2006, 77) äußerte:
„Was für mich schwer war, einfach so, wenn die alten Juden erzählten,
was für Schrecklichkeiten sie erlebten. Sie erzählen ja ganz zart, aber
manchmal kommt dann schon so was raus. Ich fĂĽhlte mich dann schon
sehr schrecklich als Deutsche oder betroffen, dieses Wort ist ja leider so
kaputt gemacht worden. Dann bleibt einem wirklich die Spucke weg. […]
Es war dann so, dass man dachte, man ist es nicht selbst. […] Unsere El-
tern haben eher geschwiegen als mit uns darĂĽber zu sprechen. Und dann
war es so ein vorsichtiges Nähern“ (Interview Brück-Gerken).
Langsam wurden durch die Teilnahme der zweiten und, später noch stär-
ker, durch die Partizipation der dritten Dialoggeneration Veränderungspro-
zesse in Gang gesetzt, die das Lernen ĂĽber die jeweilige andere Religion und
deren Bibelauslegung mehr und mehr ins Zentrum rĂĽckten. Der Wunsch
christlicher Teilnehmender, sich zunächst Wissen über das Judentum an-
zueignen, wurde mit der Zeit durch ein Reflektieren ĂĽber Gemeinsamkeiten
und Unterschiede der beiden Religionen abgelöst. Der holländische katho-
lische Bibelwissenschaftler und Bibelwochen-Teilnehmer Jo Beckers sieht
diesen Neuerungsprozess in Bezug auf ein reziprokes Lehren und Lernen
zunehmend an Gewicht gewinnen:
„Und damit wird auch dieser Dialog erwachsener. Es ist nicht mehr nur
die eine Richtung, wir kommen, um von Juden zu lernen, aber mit Recht
auch, dass Juden fragen, was habt ihr zu bieten“ (Interview Beckers).
So bildete die Lernmöglichkeit über das Christentum für den aus Los An-
geles stammenden Rabbiner Sanford Ragins eine wesentliche Komponen-
te des jüdisch-christlichen Dialogs. Er schätzte die Möglichkeit, im Zuge
der beiden Dialoginitiativen JĂĽdisch-Christliche Bibelwoche in Bendorf bzw.
Georgsmarienhütte und Christlich-Jüdische Sommeruniversität in Berlin mit
ChristInnen ins Gespräch zu kommen und durch den direkten Austausch
mehr über deren Traditionen zu erfahren – eine Gelegenheit, die sich ihm
andernorts oft nicht bot:
Ein Veränderungsprozess, in dem reziprokes Lehren
und Lernen zunehmend an Gewicht gewinnen
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 222
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven