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Johannes Thonhauser | Das Narrativ von Bedrohung und Widerstand
nen Geschehnisse aus der Vergangenheit ihre Wirkmacht aber auch bis in
die jeweilige Gegenwart entfalten, ohne dass sie in das offizielle Gedächtnis
einer Wir-Gruppe Eingang gefunden haben. Dieser Fall liegt, so die The-
se dieses Beitrags, mit dem geheim- bzw. kryptoprotestantischen Wider-
stand gegen den Konfessionalisierungs- und Sozialdisziplinierungszwang
von Kirche und Staat im 17. und 18. Jahrhundert vor. Seine über Generatio-
nen hinweg kultivierte und tradierte mentalitätsgeschichtliche Kraft zeigte
sich nicht nur im überaus hohen Anteil an Sympathisanten und Sympathi-
santinnen des (illegalen) Nationalsozialismus in Kärnten vor 1938,2 son-
dern wirkt auch in der überdurchschnittlich starken politischen Präferenz
für Protestparteien des rechtspolitischen Spektrums bis in die Gegenwart
fort. Dieser Zusammenhang soll im zweiten Teil des Beitrags herausgear-
beitet werden.
Zur theoretischen Einordnung dieser Phänomene sollen einerseits die Ein-
sichten des Soziologen Norbert Elias zum Habitusbegriff herangezogen
werden. Er erlaubt es, die viele Generationen übergreifende, langfristige
Formung eines spezifischen Verhaltensrepertoires verstehbar zu machen,
wie es für den vorliegenden Fall nützlich scheint. Andererseits sollen die
kulturwissenschaftlichen Überlegungen von Jan und Aleida Assmann zum
kulturellen Gedächtnis herangezogen werden, um ein besseres Verständnis
für die Funktionen kollektiver Erinnerung erlangen zu können.
Vom „Türkenkrieg“ bis zum „Abwehrkampf“:
Bedrohung und Widerstand als Teil kultureller Gedächtnispflege
Jan und Aleida Assmann haben in ihrer Beschäftigung mit dem kollekti-
ven Gedächtnis bekanntlich die Unterscheidung zwischen kulturellem und
kommunikativem Gedächtnis geprägt. Als jenes
„Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft
Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wie-
derholten Einübung und Einweisung ansteht“ (J. Assmann 1988, 9),
unterscheidet sich das kulturelle vom kommunikativen Gedächtnis unter
anderem durch seine organisierte und rituell geformte Pflege vergange-
ner Ereignisse. Während das kommunikative Gedächtnis die völlig unsys-
tematische, alltagsbezogene (und nicht nur generationenübergreifende)
Formung und Weitergabe von Erinnerung bzw. Wissen generell umfasst,
2 Zu Beginn des Jahres 1933 hatte
die Kärntner NSDAP ca. 15 Prozent
aller österreichischen NSDAP-
Mitglieder. Der Bevölkerungsanteil
Kärntens an Gesamtösterreich be-
trug nur ca. 6 Prozent (vgl. Valentin
2005, 59).
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 222
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven