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Martina Schmidhuber | Mehr-Generationen-Wohnen als Zukunftsmodell
vorgestellt und daraufhin geprüft, ob sie sich für Menschen in vulnerablen
Situationen eignen.
Individualisiertes Wohnen – eine Einbahnstraße?
Das Mehr-Generationen-Haus, in dem bis zu drei Generationen unter
einem Dach lebten, ist kaum noch in unserer westlichen Gesellschaft vor-
zufinden. Statistisch gesehen besteht der durchschnittliche Haushalt in
Österreich aus 2,22 Personen. In lediglich 5 Prozent der Haushalte in Ös-
terreich leben sechs oder mehr Personen. Etwa ein Sechstel der Menschen
in Österreich (16,8 Prozent) lebt alleine (vgl. Statistik Austria 2019). Das hat
mindestens zwei gesellschaftliche Folgen: Zum Einen kann die zunächst
gewünschte Individualisierung, vor allem in Großstädten, dazu führen,
dass Menschen immer einsamer werden. In vulnerablen Situationen, etwa
bei Krankheit, Hilfsbedürftigkeit etc., ist man dann auf sich allein gestellt.
Zum anderen ist für ältere Menschen der Wunsch, möglichst lange zu Hau-
se zu leben, nicht mehr in der Form umsetzbar, wie dies früher der Fall war.
Denn auch noch relativ selbständige ältere Menschen sind schnell auf die
Unterstützung anderer im Alltag angewiesen, z. B. beim Tragen schwerer
Einkaufstaschen. Während die erstgenannte Form des Allein-Wohnens
wohl meistens aus einem freiwilligen Grund resp. aus dem Wunsch nach
Selbstbestimmung und Freiheit heraus geschieht, wird die Konsequenz,
wie Spitzer konstatiert, dass daraus Einsamkeit werden kann, vermutlich
eher nicht bedacht. Genausowenig wird bedacht, dass man schnell in eine
vulnerable Situation kommen kann und dann das Angewiesen-Sein auf
andere zum manifesten Thema wird. Menschen neigen dazu, so zeigt der
Marshmallow-Effekt (vgl. Mischel 2016), sich für kurzfristigere Vorteile
zu entscheiden und mögliche spätere unangenehmere Tatsachen eher zu
suspendieren. Es fällt deshalb vielen Menschen schwer, aktuelles Handeln
an späteren möglichen Folgen zu orientieren, die noch weit in der Zukunft
liegen (vgl. im Kontext gentechnischer Eingriffe dazu auch Schaupp 2018,
224). Das bedeutet in diesem Fall, dass Menschen ihre Freiheit und Unab-
hängigkeit leben wollen und dabei nicht antizipieren, dass sie in eine vul-
nerable Situation geraten können.
Aus gewünschter Selbstbestimmung und
Freiheit kann Einsamkeit werden.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 222
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven