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Anna-Christina Kainradl und Ulla Kriebernegg | „They say we messed it up. Killing the planet ...“
seiner fast erblindeten Freundin Wilma, durch deren Fokalisierung wir als
Lesende das Geschehen erleben, Unterhaltung und Unterstützung im tri-
sten Alltag bietet. Wilma leidet am Charles-Bonnet-Syndrom, einer Form
der Makuladegeneration, die sie fast erblinden ließ. Sie kann nur wenig von
ihrer Umwelt wahrnehmen, sieht jedoch ständig und in aller Deutlichkeit
kleine Figuren, die in historisch anmutenden Kostümen tanzen und sprin-
gen, auf ihre Möbel oder die Fensterbank klettern und sich blendend zu un-
terhalten scheinen, aber niemals mit Wilma sprechen. Wilma ist sich des-
sen bewusst, dass die „Chuckies“, wie sie die kleinen Männchen nennt, ein
nicht ungewöhnliches Symptom ihrer Augenerkrankung sind, und hat ge-
lernt, mit dieser Sinnestäuschung umzugehen. Tobias ist Wilmas einziger
mehr oder weniger Vertrauter, der das, was er sieht, mit ihr teilt: „We have
to be kind to one another in here, she [Wilma] tells herself. We’re all we
have left“ (Atwood 2014, 227). Als er schließlich eines Tages durch Wilmas
Fernglas beobachtet, wie sich vor den Toren der noblen Anlage eine de-
monstrierende Menschenmenge formiert, die täglich größer wird, schließ-
lich sogar Lieferwägen blockiert und nur noch dem Pflegepersonal und an-
deren Angestellten gestattet, das Areal zu verlassen, wird er skeptisch.
Die Demonstrationen vor dem Heim werden immer aggressiver, und To-
bias muss erkennen, dass die Feindseligkeit gegenüber den „InsassInnen“
tagtäglich zunimmt:
„‘Do you think they’re dangerous?’ says Wilma. ‘Not here,’ says Tobias.
‘But in other countries they are burning things down. This group. They
say they are international. They say millions are rising up’“ (Atwood
2014, 245).
Interessanterweise tragen die Demonstrierenden als Erkennungszeichen
Babymasken und Schilder, auf denen „Our Turn“ („Wir sind dran“) steht:
„‘They say it’s their turn,’ says Tobias. […] ‘At life, they say. I heard one of
them on the television news; naturally they’re being interviewed all over
the place. They say we’ve had our turn, those our age; they say we messed
it up. Killing the planet with our own greed and so forth.’ ‘They have a
point there,’ says Wilma. ‘We did mess it up. Not on purpose, though.’“
(Atwood 2014, 243–244)
Die Welt außerhalb des SeniorInnenheims hat mit dramatischen Folgen des
Klimawandels, wie Unwettern, Hungersnöten und Krokodilsinvasionen, zu
kämpfen (Atwood 2014, 239), die die staatliche Infrastruktur und die Ex-
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 222
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven