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Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische Gefährdung
schließlich als Gewalt äußert. Diese Perspektive übersieht jedoch, dass
der größte Teil von Gewaltakten von ihren Urheber:innen als gerecht und
moralisch vertretbar angesehen wird. Gewaltakte sind selten durch bloße
Zerstörungswut und Ablehnung motiviert, sondern werden durch positive
Ziele legitimiert. Fiske und Rai versuchen in ihrem Buch Virtuous Violence
aufzuweisen, wie sehr Gewalt in soziale Beziehungen eingebunden ist:
„But in every culture, some people sometimes feel morally entitled or re-
quired to hurt or kill others. Violent initiations, human sacrifice, corporal
punishment, revenge, beating spouses, torturing enemies, ethnic cleans-
ing and genocide, honor killing, homicide, martial arts, and many other
forms of violence are usually morally motivated. The fact is that people
often feel – and explicitly judge – that in many contexts it is good to do
these kinds of violence to others: people believe that in many cases hurt-
ing or killing others is not simply justifiable, it is absolutely, fundamen-
tally right. [...] In short, most violence is the exercise of moral rights and
obligations.“ (Fiske/Rai 2014, 1)5
Wenn Fiske und Rai mit ihrer Einschätzung rechthaben, dass Gewalt von
Täter:innen als eine legitime Form der Regulierung von sozialen (auch
Gottes-)Beziehungen angesehen wird, gelingt ein Verstehen fundamenta-
listischer Gewalt nur durch einen Zugang, der sie nicht als reine Destrukti-
on versteht. Fundamentalismus als reine ‚Anti-Haltung‘ oder Nihilismus,
als bloße Reaktion auf negative Erfahrungen oder als allein durch Angst,
Kränkung oder Hass motiviert einzustufen, besitzt keinen analytischen
Mehrwert. Zielführender ist es, Fundamentalismus als Realisierung eines
inhärenten Gewaltpotenzials von religiösen und nicht-religiösen Bedeutungs-
systemen zu verstehen. Hier stellt sich die Frage, warum Gewalt allen Be-
deutungssystemen inhärent ist und wie es zur Realisierung dieses Poten-
zials kommt. Ich möchte anbieten, als Deutungsschema für dieses Problem
die menschliche Ordnungskategorie der Reinheit zu verwenden. Mary Dou-
glas hat in ihren klassischen Studien zu Reinheitsvorstellungen (Douglas
1985) aufgezeigt, wie Reinheitskonzepte aus sich heraus Gewalt erzeugen
können. Sie bietet daher einen theoretischen Ausgangspunkt, um Mecha-
nismen der Gewaltentwicklung in religiösen und nicht-religiösen Traditi-
onen oder Bewegungen offenzulegen. Damit verbunden ist kein exklusiver
Anspruch, sondern eine zusätzliche Perspektive, durch die sich neue Inter-
pretationsmöglichkeiten und auch Maßnahmen ergeben können.
5 Um das Missverständnis einer
begrifflichen Legitimierung von
Gewalt zu vermeiden, ist unbedingt
auf eine Unterscheidung von de-
skriptivem und normativem Moral-
begriff bei Fiske und Rai zu achten:
Die Bezeichnung von Gewalt als
‚moralisch‘ oder ‚moralisch mo-
tiviert‘ bezieht sich immer auf die
jeweilige Sichtweise der Täter:innen
und keinesfalls auf eine allgemeine,
präskriptive Moral. Zur Prävention
von Gewalt ist es essenziell, deren
Motivationen zu verstehen. Ähnlich
hatte zuvor bereits Pinker (2011)
argumentiert.
Fundamentalismus als reine ‚Anti-Haltung‘ zu
verstehen, besitzt keinen analytischen Mehrwert.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 224
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven