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Fabian MĂĽller | Biblizismus als Retter der Tradition?
Die Auslegung der Bibel ist wohl schon immer ein umstrittener Bereich in-
nerhalb der christlichen Kirchen und Gemeinschaften gewesen. Dies lässt
sich vor allem an der Exegese zu Gen 1–2 ablesen. So nahm man bis zum
15. Jahrhundert an, dass das Paradies ein tatsächlicher Ort in Persien sei
(vgl. Flasch 2013a, 83). Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde auch der Zeit-
punkt der Schöpfung bestimmt; laut dem anglikanischen Erzbischof James
Ussher (1581–1656) war es Sonntag, der 23. Oktober 4004 vor Christus. Be-
sonders im 19. und 20. Jahrhundert verteidigten viele christliche Exegeten
und Exegetinnen eine wörtliche Auslegung der Bibel gegenüber den auf-
strebenden Natur- und Geschichtswissenschaften. Die Veröffentlichungen
der Päpstlichen Bibelkommission um die Jahrhundertwende zeugen eben-
falls von dieser Auseinandersetzung. Gegenwärtig vertreten u. a. eini
ge
evangelikale Christinnen und Christen die Ansicht, dass die Welt tatsäch-
lich etwa 6000 Jahre alt sei und dass sie in sechs Tagen erschaffen worden
sei (vgl. Faulkner 2001).
Gegen den Einspruch der Naturwissenschaften oder einen historisch-kri-
tischen Zugang zur Bibel wenden Vertreter dieses Biblizismus ein, dass sie
mit ihrer Exegese die traditionsgemäße Auslegung des biblischen Textes
vor den Angriffen der Gegenwart bewahren wĂĽrden. Vor allem die in der
Katholischen und Evangelisch-Lutherischen Kirche weitgehend akzep-
tierte allegorische Auslegung von Genesis 1–2 sei demnach ein illegitimer
Versuch, die Botschaft der Bibel mit den etablierten Ergebnissen der Na-
turwissenschaften in Einklang zu bringen. Der AnstoĂź zu einer neuen In-
terpretation der Genesis sei ja nicht von einem vertieften Verständnis des
biblischen Textes gekommen, sondern entspringe vielmehr einem Zuge-
ständnis an den gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Wissensstand.
Damit tut sich eine Grundsatzfrage auf: Es scheint, als mĂĽsse sich der
Mensch des 21. Jahrhunderts stets zwischen zwei unversöhnbaren Optio-
nen entscheiden: Versucht er, der christlichen Tradition treu zu bleiben,
dann muss er sich gegen etabliertes naturwissenschaftliches Wissen stel-
len, nimmt er hingegen dieses Wissen ernst, dann wird er der Tradition
untreu. Ein kleiner Teilaspekt dieser weitreichenden Frage soll in diesem
Beitrag behandelt werden. Eine nicht-wörtliche Auslegung der Bibel, vor
allem der Schöpfungserzählung in Gen 1–2, ist ohne Zweifel mit zentralen
naturwissenschaftlichen Erkenntnissen viel leichter in Einklang zu brin-
Es scheint sich eine Grundsatzfrage aufzutun: der christlichen Tradition treu
bleiben oder naturwissenschaftliches Wissen ernst nehmen?
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 224
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven