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LIMINA - Grazer theologische Perspektiven
Limina - Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:1
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92 | www.limina-graz.eu Fabian Müller | Biblizismus als Retter der Tradition? Die Auslegung der Bibel ist wohl schon immer ein umstrittener Bereich in- nerhalb der christlichen Kirchen und Gemeinschaften gewesen. Dies lässt sich vor allem an der Exegese zu Gen 1–2 ablesen. So nahm man bis zum 15. Jahrhundert an, dass das Paradies ein tatsächlicher Ort in Persien sei (vgl. Flasch 2013a, 83). Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde auch der Zeit- punkt der Schöpfung bestimmt; laut dem anglikanischen Erzbischof James Ussher (1581–1656) war es Sonntag, der 23. Oktober 4004 vor Christus. Be- sonders im 19. und 20. Jahrhundert verteidigten viele christliche Exegeten und Exegetinnen eine wörtliche Auslegung der Bibel gegenüber den auf- strebenden Natur- und Geschichtswissenschaften. Die Veröffentlichungen der Päpstlichen Bibelkommission um die Jahrhundertwende zeugen eben- falls von dieser Auseinandersetzung. Gegenwärtig vertreten u. a. eini ge evangelikale Christinnen und Christen die Ansicht, dass die Welt tatsäch- lich etwa 6000 Jahre alt sei und dass sie in sechs Tagen erschaffen worden sei (vgl. Faulkner 2001). Gegen den Einspruch der Naturwissenschaften oder einen historisch-kri- tischen Zugang zur Bibel wenden Vertreter dieses Biblizismus ein, dass sie mit ihrer Exegese die traditionsgemäße Auslegung des biblischen Textes vor den Angriffen der Gegenwart bewahren würden. Vor allem die in der Katholischen und Evangelisch-Lutherischen Kirche weitgehend akzep- tierte allegorische Auslegung von Genesis 1–2 sei demnach ein illegitimer Versuch, die Botschaft der Bibel mit den etablierten Ergebnissen der Na- turwissenschaften in Einklang zu bringen. Der Anstoß zu einer neuen In- terpretation der Genesis sei ja nicht von einem vertieften Verständnis des biblischen Textes gekommen, sondern entspringe vielmehr einem Zuge- ständnis an den gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Wissensstand. Damit tut sich eine Grundsatzfrage auf: Es scheint, als müsse sich der Mensch des 21. Jahrhunderts stets zwischen zwei unversöhnbaren Optio- nen entscheiden: Versucht er, der christlichen Tradition treu zu bleiben, dann muss er sich gegen etabliertes naturwissenschaftliches Wissen stel- len, nimmt er hingegen dieses Wissen ernst, dann wird er der Tradition untreu. Ein kleiner Teilaspekt dieser weitreichenden Frage soll in diesem Beitrag behandelt werden. Eine nicht-wörtliche Auslegung der Bibel, vor allem der Schöpfungserzählung in Gen 1–2, ist ohne Zweifel mit zentralen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen viel leichter in Einklang zu brin- Es scheint sich eine Grundsatzfrage aufzutun: der christlichen Tradition treu bleiben oder naturwissenschaftliches Wissen ernst nehmen?
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Limina Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:1
Title
Limina
Subtitle
Grazer theologische Perspektiven
Volume
4:1
Editor
Karl Franzens University Graz
Date
2021
Language
German
License
CC BY 4.0
Size
21.4 x 30.1 cm
Pages
224
Categories
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