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Fabian MĂĽller | Biblizismus als Retter der Tradition?
gen. Ist dieser Friedensschluss nur um den Preis des Traditionsbruches mit
der bisherigen christlichen Auslegungsgeschichte zu gewinnen?
1 Die Auslegung der Bibel
Eine wichtige Art der Bibelauslegung ist die wörtliche Interpretation.
Sie lässt sich bis in die frühe Christenheit zurückverfolgen. Vor allem die
Schriftausleger der Antiochenischen Schule, wie Diodoros von Tarsos
(†390), Johannes Chrysostomos (†407), Theodor von Mopsuestia (†428)
und Theodoret von Kyrros (†460), haben, im Gegensatz zur in Alexandrien
vorherrschenden allegorischen Schriftauslegung, am Literalsinn festge-
halten. Für die wörtliche Auslegung der Schrift werden in der Antiocheni-
schen Schule verschiedene Begriffe verwendet, zum Beispiel kata historia
(gemäß der Geschichte), kata lexin (textgemäß), kata ten alēthē ennoian
(gemäß der wahren Bedeutung), kata to rhēton (gemäß dem Gesagten) (vgl.
Hidal 1996, 548). Ein typisches Beispiel fĂĽr diese Art des Auslegens ist die
historische Einordnung eines Psalms. Laut Diodoros von Tarsos behandelt
jeder Psalm eine bestimmte Epoche Israels. Ein Psalm kann aber auch in
die Zukunft weisen; so spricht Psalm 45 (Hochzeit des Königs), wenn man
ihn gemäß der Geschichte (kata historia) auslegt, bereits über Jesus Chris-
tus (ebd.). Somit lässt sich vorerst eine Gleichsetzung von wörtlicher mit
historischer Auslegung festhalten, wobei man sich aber der Unterschiede
zwischen der damaligen Auslegung kata historia und einer heutigen histo-
risch-kritischen Auslegung bewusst sein muss.
An Hugo von Sankt Viktor (†1141) lässt sich eine bedeutende Art der mit-
telalterlichen Exegese nachzeichnen. Unter wörtlicher Auslegung versteht
auch Hugo die historische Auslegung (vgl. Hugo von Sankt Viktor 1997,
360). Er empfiehlt sie seinen SchĂĽlern nachdrĂĽcklich:
„Als erstes lernst du die Geschichte und prägst deinem Gedächtnis sorg-
fältig die Wahrheit der Ereignisse ein, vom Anbeginn anfangend bis hin
zum Ende, was geschehen ist, wann es geschehen ist, wo es geschehen ist
und durch wen es geschehen ist“ (Hugo.did. VI,3; Harkins 2016, 141).
Laut Hugo berichtet der Bibeltext, wenn man ihn wörtlich (also histo-
risch) versteht, eine Abfolge von Ereignissen. Hier wird ein instinktives
Geschichtsverständnis deutlich: Geschichte als das Nacherzählen von ver-
gangenen Ereignissen. Insgesamt spielt die wörtliche Auslegung der Schrift
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 224
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven