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Fabian Müller | Biblizismus als Retter der Tradition?
damit man nicht einerseits durch Nachlässigkeit etwas über-
sieht und andererseits nicht durch unangebrachten Eifer den
Text gewaltsam in Richtung einer Deutung dreht, für die er
nicht geschrieben worden ist“ (Hugo.did. VI,3).
2 Genesis 1–2
Wie bereits deutlich geworden ist, sind unterschiedliche Bibelstellen un-
terschiedlich ausgelegt worden. Nun soll aber anhand von Gen 1–2 gezeigt
werden, dass auch ein und dieselbe Bibelstelle verschieden ausgelegt wor-
den ist.
Gregor von Nyssa (†395) hat im Hexaemeron eine detaillierte Auslegung
vorgelegt. Ein zentraler Punkt ist die Interpretation des Sechs-Tage-Sche-
mas. Zwar berichtet der Bibeltext in Gen 1,1–2,4a von einer Schöpfung in
sechs Tagen, doch ist dies laut Gregor nicht im wörtlichen Sinn zu verstehen.
„Gott schafft alle Seienden in einem Augenblick“ (Greg.Nyss.hex. 8,16,12),
er muss nicht wie ein Baumeister alles nacheinander schaffen und zusam-
mensetzen. Das Sechs-Tage-Schema dient nur zur Entfaltung dessen, was
von Anfang an bereits da ist (vgl. Köckert 2009, 426). Andere Autoren gin-
gen sogar von einer rein pädagogischen Funktion der Schöpfungserzählung
aus (vgl. Köckert 2009, 239–240; Köckert 2012, 990). Sie kleidet demnach
einen komplexen philosophischen Inhalt in einen metaphorisch-narrati-
ven Text, damit er für Durchschnittschristen verständlich wird.
Ein zweiter zentraler Punkt in Gregors Auslegung behandelt die Frage,
wie ein immaterieller Gott eine materielle Welt erschaffen kann. Als Text-
grundlage dienen die ersten beiden Verse der Bibel. „Im Anfang erschuf
Gott Himmel und Erde. Die Erde war wüst und wirr und Finsternis lag über
der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.“ (Gen 1,1–2). Gre-
gor benennt zunächst das Problem.
„Wenn Gott unstofflich ist, woher ist dann die Materie? Wie ist das, was
ein Maß hat, aus dem was ohne Maß ist [entstanden], und aus dem Un-
sichtbaren das Sichtbare und aus dem Größelosen und Unbegrenzten
das, was gänzlich durch ein bestimmtes Gewicht und Größe bestimmt
ist?“ (Greg.Nyss.hex. 7,14,5–12)
Unterschiedliche Bibelstellen wurden unterschiedlich ausgelegt, aber
auch ein und dieselbe Bibelstelle konnte verschieden ausgelegt werden.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 224
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven