Page - 122 - in Limina - Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:1
Image of the Page - 122 -
Text of the Page - 122 -
122 | www.limina-graz.eu
Adem AygĂŒn | Fundamentalismus im zeitgenössischen islamischen Denken
werde. Zudem wird auf das integrative und friedliche bzw. gewaltminimie-
rende Element des Islam hinwiesen und argumentiert, dass die Problema-
tik des Fundamentalismus als eines modernen PhÀnomens, also als Folge
der Globalisierung und kolonialer Bestrebungen bzw. des antiimperialisti-
schen Kampfes, gesehen werden könne. Daher werden das Aufkommen, die
Reproduktion und die Ursache dieses PhÀnomens auf der Makroebene mit
Faktoren wie politischer UnterdrĂŒckung, sozioökonomischer Benachteili-
gung, elenden Lebensbedingungen, Dehumanisierung und Chancenlosig-
keit erklÀrt und, insbesondere im europÀischen Kontext, mit individuellen
und kollektiven Diskriminierungserfahrungen, Rassismus und verbalen
und gewalttaÌtigen Ăbergriffen gegenĂŒber Muslimen (vgl. Lohlker 2016;
Kepel 2016).
Diese Faktoren fungieren als AndockflaÌche fĂŒr ein Gedankengut, das mit
den wichtigsten Parolen des islamischen Fundamentalismus unterfĂŒttert
ist, die sich der Rekonstruktion idealer Bedingungen in einem âGoldenen
Zeitalterâ widmen. Fundamentalistische Strömungen, die in diesem Sinne
utopisch sind, scheinen daher fĂŒr diejenigen muslimischen Jugendlichen
besonders attraktiv zu sein, die unter sozialen, politischen und wirtschaft-
lichen Chancenungleichheiten bei der Entfaltung und beim Erreichen ihrer
Ziele leiden. Sie liefern ihnen nicht nur Rezepte fĂŒr die Befreiung vom Elend
in dieser Welt, sondern versprechen auch, in einfacher, klarer Sprache, die
Erkenntnis der absoluten Wahrheit und ewige Erlösung im Jenseits. Der
Kampf um Lebensbedingungen, die der âErlösungâ zugrunde liegen, wird
auch als religiöse Verantwortung und Bestandteil der âErlösungâ darge-
stellt. Laut John Esposito, der auf diesen Punkt aufmerksam gemacht hat,
glauben viele Muslime heute, dass die gegenwÀrtigen Bedingungen den
Dschihad erfordern (vgl. Esposito 2002, 27).
Eine weitere Ansicht, die im Fachdiskurs vertreten wird, konzentriert sich
auf die Mesoebene und erklÀrt den Fundamentalismus mit den Auswirkun-
gen der sozialen Netzwerke, mit Organisationen und Wechselwirkungen
zwischen Gleichgesinnten, Gruppenzugehörigkeiten und Freundschaften
bzw. Verwandtschaften (vgl. Aslan/ErĆan Akkılıç/HaÌmmerle 2018; Mal-
thaner/Waldmann 2012). Vertreterinnen und Vertreter dieser Ansicht dis-
tanzieren sich vom ersten Ansatz, indem sie fragen, warum sich nur eine
Fundamentalistische Strömungen versprechen die Befreiung vom
Elend in dieser Welt und gleichzeitig ewige Erlösung im Jenseits.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 224
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven