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8 | www.limina-graz.eu jekts geworden ist, die nicht bestimmt, sondern vielmehr gewährleistet
werden soll.
Der in den letzten Jahrzehnten erfolgte Zusammenbruch der traditionel-
len sozialen Institutionen, Bindungen und Einbettungen zwingt die Men-
schen vornehmlich in der westlichen Welt, aber unter den Bedingungen der
Globalisierung zunehmend auch weltweit, eigene Aktivitäten zu entfalten
und individuelle Entscheidungen zu treffen. Dieser Individualisierungs-
prozess – so Ulrich Beck – setzt unglaubliche Möglichkeiten für die Le-
bensgestaltung der globalisierten BĂĽrgerinnen und BĂĽrger frei, generiert
aber zugleich neue Ă„ngste, Verunsicherungen und Belastungen, mit denen
sich das „Subjekt ohne Kollektiv“ auseinandersetzen muss. Die „Entzau-
berung der Welt“ als „Ausdünnen von Traditionen“ geht in den westlichen
Gesellschaften mit der Freisetzung des Individuums zu eigenen Entschei-
dungen einher und zwingt die Subjekte, die eigene Biografie „ohne Schutz“
immer neu umzuschreiben. Die Gebote, Verbote und Grenzen in der Dis-
ziplinargesellschaft werden durch Projekte, Initiativen und Motivationen
ersetzt: Dieser neue positive Unternehmergeist, der das individuelle Po-
tential durch das Paradigma der Leistung herausfordert, maximiert zwar
die Produktion, riskiert gleichzeitig aber auch, die Freiheit der immer noch
stärker geforderten Subjekte letztendlich zu erschöpfen.
Es scheint, als seien darĂĽber hinaus die Regie und die Beeinflussung der
Emotionen, Geschmäcker, Gefühle und in der Folge auch der Urteile und
Entscheidungen die wichtigste Aufgabe der Konsumgesellschaft geworden:
Demnach geht es um eine spezifische Art, auf die „Seelen“ einzuwirken,
um im postkapitalistischen Westen eine neue Verzauberung zu erzeugen
(eine Verzauberung, welche der Logik des Marketings und des Vertriebs
folgt).
Das Ideal der „negativen Freiheit“ als Emanzipation von dem oder der An-
deren – sei es das Gesetz, der Staat, die Partei, die religiöse Gemeinschaft,
Gott u. a. –, welches die Neuzeit zunehmend verwirklicht hat, führt den
einzelnen Freien bzw. die einzelne Freie in seiner bzw. ihrer Identitätsbil-
dung an die steigende Anzahl von Wahlmöglichkeiten heran, die sich in
eine unerträgliche Last transformieren können. Es geht um das Widerspiel
von neuer Freiheit und neuen Risiken und Anforderungen in den spätka-
pitalistischen Gesellschaften, die alle Lebensbereiche prägen und ständig
neue subjektive psychische und geistige Kräfte verlangen.
LIMINA 2:2 | Das Phantom der Freiheit | Editorial
„Subjekt ohne Kollektiv“ in einer entzauberten Welt
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven