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Irmtraud Fischer | Das Exodus-Paradigma
neswahrnehmungen verweisen in der Bibel nie auf teilnahmslose EindrĂŒ-
cke, sondern erzeugen immer Resonanz auf göttlicher Seite.5 Der RĂŒckblick
auf das Exodusgeschehen im Volksklagelied von Jes 63,9 stellt nach dem
Masoretentext6 sogar einen mitleidenden Gott vor, den die BedrÀngnis des
Volkes selbst bedrÀngt. Nach biblischem Zeugnis ist es freilich nicht nur die
Not allein, die die Gottheit Israels zum Handeln bewegt, sondern der Ruf
der UnterdrĂŒckten nach Rettung. Befreiung wird also durch ein Resonanz-
geschehen in Gang gesetzt, nicht durch ein Eingreifen Gottes wie ein deus
ex machina. Menschen mĂŒssen sich ihrer HilfsbedĂŒrftigkeit gewahr wer-
den und auf göttliche Rettung hoffen, um göttliche Hilfe zu erhalten. In den
Klagepsalmen entspricht dieser Zusammenhang der meist ausfĂŒhrlichen
Schilderung der Not, die von Bitten um Erhörung gefolgt wird (vgl. z. B. Ps
22,1â22a).
In der ExoduserzÀhlung reagiert Gott auf das Klagegeschrei vorerst nicht
durch direktes Eingreifen, wie das hĂ€ufig auch in den ErzĂ€hlungen ĂŒber den
sogenannten Heiligen Krieg der Fall ist, den Gott fĂŒr das Volk bei Feindes-
ĂŒbermacht und Unterlegenheit der eigenen Truppe und deren AusrĂŒstung
fĂŒhrt. Zuerst wird jeweils ein Mensch berufen, dem die Leitung des Gesche-
hens aufgetragen wird. Mose, der aus dem Wasser Gezogene (Ex 2,10) und
vor dem Genozid Gerettete (2,1â9), soll die HerausfĂŒhrung aus Ăgypten
ĂŒbernehmen. Dies wird in Ex 3 in Form einer prophetischen Berufungser-
zÀhlung7 kommuniziert, sodass durch die literarisch fest geprÀgte Gattung
deutlich wird, dass kein selbsternannter HeiĂsporn die Sklaverei beenden
soll, sondern einer mit göttlicher RĂŒckendeckung. Israel soll daran erken-
nen, dass sein Gott sich seiner annimmt. Wenn in dem hochkarÀtigen Text
von Ex 3 Mose beauftragt wird, Israel aus Ăgypten zu fĂŒhren, dann tut er
dies nicht im Namen irgendeines Gottes, sondern â so will es der biblische
Geschichtsaufriss â er ist erstmals in der Lage, den geoffenbarten Eigen-
namen dieser Gottheit zu benennen: Es ist JHWH, der Mit-Seiende Gott,8
der bereits den Erzeltern die doppelte IsraelverheiĂung, jene von Volk und
Land, gab und der seine ResonanzfÀhigkeit bereits im sprechenden Namen
trÀgt.
Sowohl fĂŒr das eigene Volk (vgl. Ex 4,1) als auch fĂŒr den Pharao (5,2) braucht
Mose eine Legitimierung. Die resonante vertikale Achse zwischen Gott, sei-
nem Volk und dessen berufenem Retter braucht, um befreiend wirksam zu
werden, auch eine funktionierende horizontale Achse: Mose muss sowohl
zum unterdrĂŒckten Volk als auch zu dessen Sklavenhalter eine resonante
Beziehung aufbauen, damit sein Auftrag gelingen kann. Um diese horizon-
tale Achse zu aktivieren, braucht es einerseits vertrauensbildende MaĂ-
5 Zu Hören und Sehen als resonan-
ten Beziehungsmarkern der Bezie-
hung zwischen Gott und dem Men-
schen siehe Janowski 2013, 85â97.
6 Das Ketib-Qere in Jes 63,9 hat im-
mense Auswirkungen auf das Got-
tesverstÀndnis: WÀhrend MT einen
mitleidenden Gott bezeugt, liest
die Septuaginta ketib und negiert
damit â in Konsequenz der Ăberset-
zung des Gottesnamens JHWH mit
âder Seiendeâ, der den unbewegten
Beweger in die Bibel einspielt â die
BedrÀngnis Gottes durch jene des
Volkes; siehe dazu ausfĂŒhrlich:
Fischer 1989, 6â11.
7 Den Zusammenhang der Legiti-
mierung der Sendung mit den Beru-
fungserzÀhlungen hat Richter 1970
herausgearbeitet.
8 Wie G. Fischer/Markl 2009, 54â57
betonen, lÀsst sich aus dem Wort-
spiel von Hos 1,9 das VerstÀndnis
des Mitseienden bereits biblisch
belegen .
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven