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Irmtraud Fischer | Das Exodus-Paradigma
seits verweist der Ruf auf die Notwendigkeit, sich nach einer Befreiung aus
welchen Situationen auch immer ein neues Leben einzurichten, das nicht
mehr sein kann wie vorher. Jede Befreiung aus ist auch mit Verlusten ver-
bunden, nicht nur mit dem Gewinn neuer Möglichkeiten. Meist spielt da-
bei auch die hingehaltene Hoffnung eine Rolle und die dadurch genährten
Zweifel, ob man denn die richtige Entscheidung getroffen habe: Wann end-
lich wird sich das bessere Leben einstellen? Oder war der Aufbruch falsch?
Diese entscheidenden Lebensfragen bleiben kaum jemandem erspart, der
zu neuen Ufern aufgebrochen ist, sei es durch Migration, sei es durch Ver-
änderung der Lebensform, durch Arbeits- oder Partnerwechsel.12
Die Lebenserfahrung lässt Menschen im vorgerückten Alter daher dies-
bezĂĽglich vorsichtig sein. Biblisch ist der Themenkomplex in den Tex-
ten, die eine RĂĽckkehr aus dem Exil bzw. der Diaspora ansprechen, gut
charakterisiert. Diese ging bekanntlich höchst schleppend vor sich, denn
die Menschen hatten sich – wie der Brief Jeremias es forderte (vgl. Jer 29,
4–9) – bereits ein neues Leben eingerichtet. Auch wenn die Rückkehr ins
VerheiĂźungsland als neuer Exodus viel glorreicher dargestellt wurde als der
Auszug aus Ägypten (vgl. Jes 35; 55,1–3; ausführlicher dazu Fischer 2000)
und er mit großen Verheißungen (vgl. Gen 12,1–4) und dem Ausmalen
einer goldenen Zukunft (siehe Jes 60–62) verbunden war, überlegten die
Menschen offenkundig lange und gründlich, wofür sie bereit wären, ihren
wohlerworbenen oder eingefahrenen Lebensstil aufzugeben. Ortlosigkeit
und soziale Isolation können schließlich als schlimmer empfunden werden
als Leben in beengenden, nur den minimalen Lebensstandard wahrenden
Verhältnissen.
Freilich ist heute zu fragen, wofĂĽr Menschen vor allem fĂĽr Arbeit migrie-
ren. Um einen höheren Lebensstandard zu erreichen, lassen sie ihre Fami-
lie und Freunde zurĂĽck und man fragt sich bei manchen, wofĂĽr der bessere
Verdienst dann ausgegeben wird und ob sich das Mehr an Konsumproduk-
ten denn mit dem Mangel an Lebensqualität aufheben lässt. Ein früher Pro-
phet, der Unfreiheit von Menschen aufgrund von aktuellem Konsumzwang
und Werbeterror vorausgesehen hat, war wohl Pier Paolo Pasolini, der ins-
besondere in seinen Freibeuterschriften das Demokratie und Freiheit ge-
fährdende Potential des Konsumismus diagnostizierte (vgl. Pasolini 1979).
Die Wüstenerzählungen thematisieren aber auch die Risiken für jene, die
beim Befreiungsprozess fĂĽhrend sind. Die BĂĽndelung der Macht in ganz
12 Selbst bei Befreiungen aus ge-
walttätigen Partnerbeziehungen
findet sich häufig das Phänomen,
dass Frauen wider besseres Erfah-
rungswissen zu ihren Männern zu-
rĂĽckkehren.
Jede Befreiung ist auch mit Verlusten verbunden.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven