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Irmtraud Fischer | Das Exodus-Paradigma
Dauer garantieren wird, noch vor Betreten desselben gegeben werden. Der
Offenbarungsberg, der in diesem Erzählzusammenhang so zentral ist, wird
in der Folge zur U-Topia, zu einem Ort, der nur mehr im Erinnerungsraum
von Relevanz ist, jedoch nicht mehr aufgesucht wird und in seiner Funktion
nicht mehr aktualisiert werden kann: Die Tora ist im Land zu halten, nicht
an einem Wallfahrtsort. Wenn Elija in 1 Kön 19,1–18 in seiner Erschöpfungs-
depression wieder zum Gottesberg gehen will, um dort JHWH zu begegnen,
so erlebt er das Gegenteil einer gewaltigen Theophanie, unter deren Bedin-
gungen das Gesetz gegeben wurde (V11–13). Gott fragt ihn zuallererst, was
er hier zu suchen habe. Im flüsternden Säuseln lässt sich Gott erfahren und
schickt seinen Propheten mit neuen Aufgaben wieder dorthin, wo er her-
kommt: ins Land zurĂĽck (V15f.).
Das Land ist damit jener Resonanzraum, in dem der Bund zwischen Gott
und Volk als lebendige Beziehung gelebt wird, nicht der liminale WĂĽs-
tenabschnitt mit dem zentralen Offenbarungsberg. Als Gabe Gottes gege-
ben, gibt er die Richtlinien vor, unter denen diese Gabe dauerhaft erhalten
bleibt, bestimmt aber auch die Ausschlusskriterien fĂĽr den Fall, dass Israel
diesen seinen neuen Lebensstil verlässt (vgl. Dtn 28).
Sklaven waren wir:
Memoria der Befreiung wider die Scham ĂĽber die Herkunft
Didier Eribon hat in seinem beeindruckenden Buch RĂĽckkehr nach Reims
(2016) die soziale Scham beschrieben, die Menschen aus der Arbeiterklasse
heute befällt, wenn es ihnen gelungen ist, ihr Herkunftsmilieu zu verlassen
und sich in Intellektuellenzirkeln zu beheimaten. Das Outing der bildungs-
fremden Herkunft sei schwieriger als jenes in Bezug auf Homosexualität,
so seine beklemmende sozialkritische Diagnose. FĂĽr jene, die aus dem Bil-
dungsmilieu kommen, ist der lebenslänglich zu leistende kontinuierliche
Aufwand, sich das anzueignen, was andere von Kind auf ungefragt mitbe-
kamen, kaum vorstellbar. FĂĽr jene, die sich etablieren konnten, bedeutet
das Wissen um den lebenslänglich nicht aufzuholenden Rückstand auch
einen kontinuierlichen Balanceakt, die LĂĽcken nicht bloĂźzulegen. Um nicht
von vornherein unter Verdacht zu stehen, dem neuen Milieu nicht zu ent-
sprechen, wird daher selbst in unserer aufgeklärten Gesellschaft die Her-
kunft aus der Unterschicht verschleiert.
Israel versucht dies mit seiner Herkunft gerade nicht.15 Das Grundbekennt-
nis, das zentral das Hauptfest Pessach prägt und die berühmte Kinderfrage
15 Durch die Vorschaltung der
Genesis vor den pentateuchischen
Erzählzusammenhang einer „Mose-
Biographie“ wird allerdings die
Herkunft aus dem niedrigsten Milieu
relativiert, da die Erzeltern ja einmal
wohlhabend im Lande lebten und
erst durch Migrationsumstände
versklavt wurden.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven