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Reinhold Esterbauer | Zwischen Hoffnung und Gewalt
zu leben, es also nicht zu vergeuden oder zu versäumen. Darüber hinaus
hat menschliches Dasein aber auch eine Distanz zum Tod, solange er noch
nicht eingetreten ist, dennoch aber in die Existenz eingeschrieben bleibt.
So ist der eigene Tod nicht nur das Ziel des Lebens, auf das man sich unwei-
gerlich zubewegt, sondern auch die nicht abwendbare Forderung, dass das
Leben ernst zu nehmen und zu gestalten ist.
Das Verhältnis zum eigenen Tod, das in der Konstellation der unterschied-
lichen Existentiale sichtbar wird, eröffnet also einen Bereich, der nicht un-
wesentlich dadurch gestaltet wird, wie sich jemand zum eigenen Tod ins
Verhältnis setzt. Der eigene Tod kann nicht nur herbeigeführt werden –
gewöhnlich wird freilich versucht, ihn hinauszuschieben –, sondern be-
einflusst auch die Lebensführung. Solche „Freiheit zum Tode“ (Heidegger
1977, 353; Kursiv. im Orig.) bezeichnet die Möglichkeit, dem eigenen Leben
allmählich eine Gestalt zu geben, die sich im Tod als eine bestimmte Form
von Ganzheit entpuppt. Unabhängig davon, ob man mit Heidegger den Tod
als die letzte Möglichkeit des eigenen Lebens versteht oder mit Emma
nuel
Levinas als den Augenblick ansieht, ab dem „wir […] nicht mehr können
können / nous ne pouvons plus pouvoir“ (Levinas 2003, 47/62), weil einem
jede Möglichkeit entzogen worden ist, bleibt das vom menschlichen Dasein
untrennbare, weil schon existential vorgegebene Verhältnis zum eigenen
Tod der Ursprung von Freiheit. Diese erlaubt es, das Leben zu gestalten,
fordert aber auch ein, dies aktiv zu tun.
Dadurch, dass der Mensch um die eigene Sterblichkeit weiĂź, also den eige-
nen Tod antizipieren kann, eröffnet sich für ihn Freiheit. Zugleich tut sich
durch dieses Verhältnis zum eigenen Tod ein Spielraum für jeden Einzel-
nen und jede Einzelne auf, der ein zeitlicher „Spielraum“ ist. Durch die An-
tizipation des eigenen Todes wird die unmittelbare Gegenwart, in der man
selbst verfangen ist, individuell ĂĽberschritten. Es entsteht eine Distanz
zwischen dem Leben in der Gegenwart und späterer Zeit, die in das gegen-
wärtige Leben hineinreicht. Umgekehrt erhält die Gegenwart einen Bezug
auf Zukunft. Wesentlich erscheint mir, dass damit nicht nur Lebenszeit
eröffnet ist, sondern auch, dass das Verhältnis zur eigenen Lebenszeit ein
doppeltes wird. Zum einen befinden wir uns in einer bestimmten Zeit, und
zum anderen sind wir „von der Zeit, in der wir uns befinden, zugleich dis-
tanziert“ (Picht 2001, 153). Freiheit, die sich zwischen Gegenwart und Tod
aufspannt, hat also eine spezifische zeitliche Gestalt: Sie ist einerseits an
Gegenwart gebunden, und andererseits weist sie zugleich ĂĽber diese hin-
aus. Anderenfalls wären weder Handlungen noch Entwürfe für die Zukunft
möglich. So aber kann die eigene Biografie in Offenheit gestaltet werden.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven