Page - 117 - in Limina - Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
Image of the Page - 117 -
Text of the Page - 117 -
118 | www.limina-graz.eu
Reinhold Esterbauer | Zwischen Hoffnung und Gewalt
volontaire “ (Ricœur 1974b, 161/281) Zeugnis, also vom Faktum, dass wir
das Böse „beginnen/commençons“, aber nur „von einem bereits vorhande-
nen Bösen aus / à partir d’un mal déjà là “ (Ricœur 1974b, 161/282). Gelöst
kann dieses Dilemma nicht vom Menschen selbst werden, sondern nur von
Gott jenseits der Reichweite menschlicher Freiheit durch einen Akt der fĂĽr
das Heil unabdingbaren Gnade.
Derselbe Gedanke ĂĽber die Unabgeschlossenheit der menschlichen Freiheit
lässt sich auch von der Kant’schen Postulatenlehre aus entwickeln. Wie wie-
derum Ricœur gezeigt hat, liegt Kants drei Postulaten der praktischen Ver-
nunft und dem praktischen Verlangen des Menschen ein „theoretische[s]
Postulat / postulat théorique“ zugrunde, das der Erwartung der Einheit von
GlĂĽckswĂĽrdigkeit und GlĂĽckseligkeit entspricht. Kant hat in seiner Philo-
sophie zwar keinen Platz „für einen Begriff des Geschenks, der als solcher
eine Kategorie des Heiligen darstellt / pour un concept de don, qui est une
catégorie du Sacré“, doch verfügt er über „den Begriff des Ursprungs einer
Synthese, die wir selber nicht erzeugen können / un concept pour l’origine
d’une synthèse qui n’est pas en notre pouvoir“ (Ricœur 1973, 221/411). Das
bedeutet für Ricœur, dass die Moralphilosophie dort zur Religionsphiloso-
phie mutiert, „wo sich zum Bewußtsein der Pflicht die Hoffnung auf eine
Erfüllung gesellt / lorsque, à la conscience de l’obligation, vient s’ajouter
l’espérance de l’accomplissement“ (Ricœur 1973, 222/412). Die Moral kann
einen nicht glĂĽcklich machen, sondern nur zeigen, wie man der GlĂĽck-
seligkeit würdig werden kann. Letztere lässt sich nur ersehnen, womit wie-
derum die Hoffnung ĂĽber den Tod hinaus ins Spiel gekommen ist.
Eine Schwierigkeit religiöser Freiheit besteht gerade darin, dass sie in der
ständigen Versuchung steht, ihre Grenze nicht anzuerkennen und die un-
aufhebbare LĂĽcke zwischen dem zeitlich begrenzten Wirklichkeitshorizont
und ihrer Reichweite ĂĽber den Tod hinaus zu schlieĂźen. Wenn Freiheit nicht
von vornherein durch neurobiologische Theorien für nichtig erklärt wird,
kann sie auch dann, wenn sie religiös „bis ans Ende gedacht“ wird, zunich-
te gemacht werden. Das geschieht dann, wenn nicht eine Theorie der Hoff-
nung (Moltmann 1985) die Eschatologie in die Entscheidungsmacht Gottes
stellt, sondern „die letzten Dinge“ in dem Sinn der menschlichen Freiheit
ĂĽberantwortet werden, dass sie ihre Reichweite und VerfĂĽgungsmacht zur
Deckung bringt.
Reichweite und Verfügungsmacht religiöser Freiheit
sind nicht in Deckung zu bringen.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven