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Reinhold Esterbauer | Zwischen Hoffnung und Gewalt
biographische Identität erwirbt, die sich ständig wandelt. Wenn solche
Identität auch religiöse Implikationen aufweist, betrifft das Sich-Zeitigen
auch die religiöse Überzeugung, die ihrerseits in die Hoffnung mündet, sich
selbst nicht vollenden zu müssen, sondern vollendet zu werden – nach al-
ler Brüchigkeit und allen Änderungen der eigenen Identität im Laufe des
Lebens. Fehlt diese Offenheit, liegt der Versuch nicht fern, Identitäten ins
„Identitäre“ zu verkehren. Zunächst wird dabei oft die Vielzahl von Iden-
titäten auf eine Grundidentität reduziert, die alle anderen bestimmen soll.
So schreibt etwa Patrick Lenart, der nach eigenen Angaben von 2016 bis
2018 gemeinsam mit Martin Sellner die „Identitäre Bewegung Österreichs“
geleitet hat, mit Datum vom 30. November 2017 auf seiner Homepage un-
ter dem Titel „Was heißt identitär?“, dass es eine einzige Identität gebe,
„auf de[r] alle anderen Identitäten beruhen“. (Lenart 2017) Gemeint ist die
so genannte „ethnokulturelle Identität“, wonach „Völker“ ihre Identität
erhalten müssten, ohne dem so genannten „Großen Austausch“, also kul-
tureller und religiöser „Vermischung“ zuzustimmen. Bekenne man sich zu
dieser „ethnokulturellen Identität“, sei man „identitär“. (Lenart 2017)
Wie sich leicht erkennen lässt, reduziert der Begriff „identitär“ den Plural
von Identitäten auf eine einzige und hält sie für abgeschlossen. Verunsiche-
rungen oder Infragestellungen werden als Schaden nicht nur fĂĽr die eigene
„Volksgemeinschaft“, sondern auch für einen selbst angesehen, da Absi-
cherungen der eigenen Existenz als bedroht erachtet werden. Mit solchen
Fixierungsversuchen wird aber eine zweifache Negation durchgefĂĽhrt, die
einerseits die Zeit und andererseits den Tod betrifft. Absolut fixierte Identi-
tät negiert zukünftige Möglichkeiten eigener Entwicklung. Identitäre ent-
halten sich deshalb die eigene Zukunft vor und meinen, immer schon das zu
sein, was sie erst werden könnten. Darüber hinaus negieren sie den eigenen
Tod, indem sie zum einen nicht akzeptieren, dass der Tod das Leben als
unvollendet zurücklässt, und indem sie zum anderen die ausstehende und
religiös erhoffte Vollendung als in der Gegenwart realisiert behaupten. Auf
diese Weise nehmen sie zwei der oben herausgestellten Momente von Frei-
heit nicht ernst: Unabgeschlossenheit und Vorläufigkeit freien Handelns.
Darin liegt das große Gewaltpotential „identitären“ Selbstverständnisses
begründet. Denn: „Wer Zeit und Tod negiert, nimmt die Wirklichkeit nicht
mehr wahr.“ (Picht 2001, 159) Er setzt vielmehr der negierten Wirklichkeit
eine zweite gegenüber, die er für die eigentliche hält und von der er glaubt,
„Wer Zeit und Tod negiert, nimmt die Wirklichkeit nicht mehr wahr.“
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven