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Reinhold Esterbauer | Zwischen Hoffnung und Gewalt
dem Anspruch, das Gute zu tun. Da frei zu sein heißt, immer schon „un-
ter dem Anruf des Guten zu stehen“ (Pöltner 2001, 14), kann sich Gutes
nur dann durchsetzen, wenn es um seiner selbst willen gewollt wird, nicht
aber, wenn es sich gleichsam wie von selbst einstellen soll, sobald Negati-
ves bekämpft wird. Das bedeutet, dass der Anruf des Guten nicht in der Ver-
fügung der Freiheit steht, sondern ihr vorausliegt. Dieser Anruf „geht dem
Widerstreit der Freiheiten, dem Krieg, voraus / est antérieure à l’opposition
de libertés, à la guerre“ (Levinas 1992b 28/32). Das gilt unabhängig davon,
ob man mit Levinas im Antlitz des anderen Menschen den zentralen und
unüberbietbaren ethischen Anspruch gegeben sieht oder nicht. Jedenfalls
gibt der Anruf des Guten bloßer Willkür eine Richtung. Sobald Freiheit sich
nicht mehr über Ansprüche hinwegsetzen kann, indem sie diese ungesche-
hen macht, ist freies Handeln mit Verantwortung verbunden. Denn inso-
fern Freiheit eine gerichtete ist, verliert sie ihre Naivität und gerät unter
Rechtfertigungsdruck – nicht darüber, dass es sie gibt, wohl aber darüber,
was in ihrem Namen getan wird.
Daran zeigt sich eine wesentliche Grenze, zugleich aber auch ein Ermögli-
chungsgrund religiöser Freiheit. Da Freiheit nicht ohne Verantwortung zu
haben ist, muss – noch bevor die Frage gestellt werden kann, wie weit die
eigene Verantwortung reicht – im Hinblick auf religiöse Freiheit beachtet
werden, was über Hoffnung schon zu sagen war. Das Verfehlen des Anrufs
des Guten geht weder mit dem Verlust der Freiheit einher, noch ist das un-
erbittliche Faktum, dass die gesetzte Tat nicht mehr ungeschehen gemacht
werden kann, notwendig damit gekoppelt, dass eine verwerfliche Hand-
lung nicht mehr vergeben werden kann. Die Vergebung der eigenen bösen
Tat ist vom geschädigten oder betroffenen Menschen nicht erzwingbar,
kann über den eigenen Tod hinaus aber erhofft werden.
Die Meinung, dass „bedingungslose Liebe“, wie sie Martha Nussbaum als
Steigerung der Haltung „bedingungsloser Vergebung“ propagiert, die ih-
rerseits schon rückwärtsgerichtete Rache auf Zukunft hin ausrichtet, sol-
che Hoffnung nicht brauche (Nussbaum 2017, 114), lässt sich deshalb be-
zweifeln. Nussbaum möchte die „Fallstricke, die selbst in der bedingungs-
losen Vergebung liegen“ (Nussbaum 2017, 128) und jeden Versöhnungs-
prozess erschweren, durch eine Großzügigkeit vonseiten der Verletzten
ersetzen, die keine eschatologische Hoffnung mehr benötigt. Sie bezieht
sich dabei auf Gustav Mahlers zweite Sinfonie („Auferstehungssinfonie“),
in deren Schlusssatz jedes Gericht ausgespart bleibt, weil es „weder Strafe
noch Belohnung“ gibt, sondern „nur überwältigende Liebe“. (Nussbaum
2017, 121) Wenn man allerdings nicht nur die Allmacht irdischer Vergebung
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven