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Franz Winter | Hat neben Gottes Allmacht der freie Wille noch Platz?
kiert. Dem steht auf der anderen Seite die Frage nach der Verantwortung
des Menschen für seine Taten und deren Relevanz für das endzeitliche Ge-
richt gegenüber. Diese grundsätzliche Spannung ist im Koran grundgelegt
und in der weiteren theologischen Tradition ausgeführt worden, die in un-
terschiedlicher Art und Weise versuchte, diese Fragestellung aufzulösen.
Dass das Themenumfeld im Islam ein ganz zentrales ist, erhellt allein die
Tatsache, dass einer der sechs grundlegenden „Glaubensinhalte“, d. h.
der Traktat imān, mit dem zentralen Begriff qadar (meist als „Vorbestim-
mung“, „Vorhersehung“) verbunden ist und oft in der Formulierung ent-
gegentritt: der Glaube an „die (göttliche) Vorherbestimmung, das Gute an
ihr und auch das Schlechte an ihr“. Diese übliche Formulierung geht im
Endeffekt auf die einschlägige Aufzählung im sogenannten „Gabriel Ha-
dith“ zurück (ḥadīth Jibrīl), der klassisch unter anderem die fünf Säulen
des islām und die sechs Bereiche des imān („Glaube“) beinhaltet und in der
Auslegungstradition eine zentrale Rolle spielt.4
Im Islam wird diese Debatte in den theologischen Traktaten unter der
Überschrift al-qaḍā’ wa-l-qadar (etwa: „Entscheidung und Bestimmung“)
geführt, wobei der erste Begriff, der schon aus dem vorislamischen Kontext
bekannt ist, mehr den Fokus auf die „Entscheidung“ Gottes in Bezug auf
die Menschen im Blick hat, während qadar (eigentlich „Anteil“) ursprüng-
lich eher einen quasi quantitativen Aspekt einführt, der sich unter anderem
auf die Lebensspanne oder den prinzipiellen Anteil am Leben und seinen
Ressourcen bezieht (Ringgren 1955, 5–61).
Im Folgenden soll versucht werden, diesem Thema in der islamischen Tra-
dition in der gebotenen Kürze gerecht zu werden. Dabei geht es nicht um die
Isolierung der islamischen Position diesbezüglich, sondern vielmehr um
eine historisch kontextualisierende Auseinandersetzung mit prinzipiellen
Überlegungen und Denkfiguren, die im Kontext der sehr breiten islami-
schen Tradition entwickelt wurden. Deren historisch orientierte Beschrei-
bung steht im Zentrum der Darstellung und es wird kein Anspruch erho-
ben, in diesem Beitrag eine neue Sicht auf die Entwicklung zu werfen. Dabei
soll prinzipiell mit der Grundsatzklärung durch al-Ash‘arī im 10. Jahrhun-
dert der Endpunkt auch dieser Darstellung markiert sein. Dabei muss aber
betont werden, dass die Diskussion danach sehr wohl noch weiterging und
äußerst weitgefächert verlief. Wie bei allen großen religiösen Traditionen
haben wir es bei so komplexen Fragen zumeist mit einem ganzen Pool an
Überlegungen zu tun, die sich innerhalb eines gewissen Rasters entwickeln
und zudem niemals als endgültig abgeschlossen betrachtet werden dürfen.
4 Die zitierte Formulierung dieser
Wendung (im Arabischen: bi-l-
qadari khairihi wa-sharrihi) findet
sich in umfangreicheren Versionen
dieses Hadith, beispielsweise in
der weitverbreiteten „40 Hadith“
Sammlung von an-Nawawī (1233–
1277), al-arba‘īn al-nawawiyya, als
Nr. 2. Vgl. Zarabozo 1999, Vol. 1, 151f.
Zu den verschiedenen Versionen und
der Interpretationsgeschichte dieses
wichtigen Hadith vgl. Nagel 2008,
709–711.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven