Page - 173 - in Limina - Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
Image of the Page - 173 -
Text of the Page - 173 -
174 | www.limina-graz.eu
Franz Winter | Hat neben Gottes Allmacht der freie Wille noch Platz?
nach dem freien Willen ein wichtiger Punkt. Im Grunde genommen nah-
men die Mu‘taziliten den Faden wieder auf, der auf die Qadiriten zurück-
geht, allerdings bezogen sie sich auf andere Bereiche. Zentrales Anliegen
der mu‘tazilitischen Theologie waren die Themen „Gerechtigkeit“ (‘adl)
und „Einheit“ Gottes (tauḥīd), was sich auch in deren Eigenbezeichnung
als ahl al-‘adl wa-t-tauḥīd niederschlug.
Im Zusammenhang mit dem Thema des freien Willens verschob sich die
Fragestellung primär auf den Aspekt der Kontrolle Gottes über die Taten
der Menschen in der Gegenwart bzw. ob diese selbst schon prädetermi-
niert wären. Für die Mu‘taziliten wurde dabei das Moment der Gerechtig-
keit zentral: Gott kann unmöglich die Menschen für Taten, die er selbst
vorherbestimmt hat, mit der Hölle bestrafen, weil das implizieren würde,
dass Gott eigentlich ungerecht handelt. Konkrete Taten sind vielmehr dem
freien Willen des Menschen geschuldet. Wichtige Argumentationsgrundla-
ge waren koranische Aussagen wie „Und Gott will nicht, daß irgendjeman-
dem in der Welt Unrecht geschieht“ (Sure 3,108; dort in einem eindeutig
eschatologisch zu verstehenden Kontext) oder „Was dich an Gutem trifft,
kommt von Gott, was dich an Schlimmem trifft, von dir selber“ (Sure 4,79).
Damit sind in der mu‘tazilitischen Interpretation sehr deutliche Aussagen
über die Gerechtigkeit Gottes als wesentlicher Aspekt seines Wesens ge-
meint, die somit fundamentale Fragen nach der Theodizee thematisieren.
Dem Menschen wird dementsprechend ein freier Wille zur Entscheidung
zugesprochen, der eben auch die für schlechte Taten impliziert. Womit sich
aber wieder die alte Frage nach der Verträglichkeit dieses Konzeptes mit
der Vorstellung einer Allmacht Gottes stellt.
In gewisser Weise knüpft al-Ash‘arī an diese Diskussion an und versucht
einen Kompromiss, der zur Einführung eines Terminus führt, der in der
weiteren theologischen Debatte zentral wird, allerdings recht schillernd
bleibt: der Begriff bzw. die Theorie der „Aneignung“ bzw. des „Erwerbs“
(kasb, iktisab). Obwohl der Mensch beobachtet, dass von ihm Handlungen
ausgehen, ist er nicht deren Urheber, denn die Fähigkeit, eine Handlung zu
vollziehen, schafft Allah genau in dem Augenblick, in dem diese vollzogen
werde. Der Mensch „eignet“ sich sozusagen im Moment des Handelns die
jeweilige Handlung an, die somit nicht im Widerspruch zur absolut gesetz-
ten Seins- und Handlungsmacht Allahs steht (Nagel 2008, 404–405).
Die Fragestellung verschob sich auf den Aspekt der Kontrolle Gottes
über die Taten der Menschen in der Gegenwart.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven