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Georg Gasser | „I0I00I0II ... Ich, digital?“
Aber ich kann weder mit absoluter Gewissheit wissen, ob der Gehalt dieser
Erinnerungen korrekt ist, noch ob ich es war, der das Erinnerte erlebt und
getan hat oder ein mir qualitativ kaum verschiedener Vorgänger. Anders
ausgedrückt: Ein identitätskonstituierender Brückenschlag vom jetzigen
zum vergangenen Ich ist nicht möglich, da ich nur in meiner jetzigen Er-
innerung auf ein dort präsentes „gestriges Ich“ zugreifen kann (vgl. dazu
Quante 2007, 75–79). Phänomenologisch kann zudem bezweifelt werden,
ob eine postulierte Qualität der „Selbigkeit“ in der Zeit sich nur bei strikter
personaler Identität einstellt, während hinreichend starke psychologische
Kontinuität sich hierfür als zu „schwach“ erweist und daher subjektiv er-
fahrbare Veränderungen in der „Meinigkeit“ der Ersten-Person-Perspek-
tive mit sich bringen wĂĽrde.
Drittens: Es ist zu betonen, dass die Frage nach unserer Identität in der Zeit
nicht nur Gegenstand theoretischer Überlegungen, sondern oft primär auf
einer praktisch-lebensweltlichen Ebene angesiedelt ist. Marya Schechtman
(1996, 77) plädiert im Sinne einer Entwirrung der Identitätsdebatte daher
dafĂĽr, zwischen einer metaphysischen Re-Identifizierungsfrage und einer
praktischen Charakterisierungsfrage personaler Identität zu unterschei-
den: Bei der Charakterisierungsfrage ist es entscheidend, dass jemand sei-
ne Absichten, Ăśberzeugungen, WĂĽnsche und Handlungen zu einer (mehr
oder minder) strukturierten Einheit zusammenfĂĽhren kann, die dem eige-
nen personalen Selbstverständnis entspricht. Ein solches Selbstverständ-
nis ergibt sich nicht einfach aus einer Abfolge mentaler Zustände, welche
dann aus einer neutralen Perspektive aufgrund von Ă„hnlichkeitskriterien
oder Kausalverbindungen als miteinander in einer Kontinuitätsrelation
stehend klassifiziert werden, sondern es entsteht vielmehr durch bewusste
und willentliche Aneignung. So betont Quante:
„Dass Personen sich mit eigenen zukünftigen oder vergangenen Zustän-
den identifizieren, bedeutet dann, dass sie nicht einfach nur erkennen,
was mit ihnen diesbezĂĽglich der Fall ist, sondern sich aktiv gestaltend
verhalten.“ (Quante 2007, 147)
Als Personen fällt uns nicht einfach ein Leben zu, das sich in einer Reihe
körperlicher und bewusster Zustände erschöpft, sondern wir führen ein Le-
ben, das wir uns als solches aneignen und dadurch zu unserem Leben ma-
Das Leben erschöpft sich nicht in einer Reihe
körperlicher und bewusster Zustände.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven