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Georg Gasser | „I0I00I0II ... Ich, digital?“
und in einem säkularen Kontext verankerten christlich-eschatologischen
Kategorien. Obwohl die meisten Transhumanisten sich als säkular erach-
ten, lassen sich also strukturelle Parallelen zu religiösen Weltdeutungen,
insbesondere christlicher Provenienz, aufweisen. Zum einen betrifft dies
die Deutung der irdischen Existenz als prekär, unvollkommen und erlö-
sungsbedürftig sowie die Sehnsucht nach einer umfassenden Transforma-
tion bzw. Transzendierung dieser irdischen Daseinsbedingungen durch ein
neues Mensch-Sein, das sich durch ein Leben ohne Leid, Bedrohung und
limitierende Faktoren auszeichnet (vgl. Küenzlen 1997). Zum anderen war
ein anthropologischer Dualismus, der den Körper zugunsten der Seele ab-
wertete, ein äußerst wirkmächtiges Motiv der christlichen Tradition.
Allerdings ist auch anzumerken, dass sich zu diesen strukturellen Ähnlich-
keiten zwischen transhumanistischem und christlich-anthropologischem
Dualismus auch wesentliche Unterschiede gesellen: Offensichtlich ist der
Unterschied hinsichtlich des Weges der Erlösung unserer unvollkomme-
nen Existenz. Während eine christlich gedachte Vervollkommnung des
Menschen durch göttliches Wirken geschenkt wird und somit nicht der
Mensch selbst durch technischen Fortschritt diese Vervollkommnung er-
wirken kann, besteht die Aufgabe oder gar moralische Verpflichtung des
Transhumanisten darin, an einer menschengemachten Technik für Erlö-
sung mitzuwirken. Erlösung wird nicht geschenkt, sondern muss herge-
stellt werden.
Entscheidend für die vorliegenden Überlegungen ist aber ein anderer
Punkt: Wie deutlich wurde, wird unsere biologische Form der Verkörpe-
rung als behindernder und limitierender Aspekt unserer Existenz angese-
hen, und als der einzig zu bewahrende Aspekt menschlichen Daseins gilt
unser Bewusstsein. Eine leider allzu wirkmächtige Leibfeindlichkeit kann
dem Christentum zwar nicht abgesprochen werden, aber es ist trotzdem
zu berücksichtigen, dass eine gänzliche Überwindung unserer körperlich
verfassten Existenz nicht Teil dieser Tradition ist. Leiblichkeit ist zwar
in besonderer Weise mit moralischen Verfehlungen und sündhaften Ver-
haltensformen in Verbindung gebracht worden, aber gerade darum wur-
de Leiblichkeit auch als erlösungsbedürftiger Teil der Schöpfung erachtet.
Und gerade die Inkarnation Christi verdeutlicht, dass nicht einmal Gott
ohne die Annahme eines menschlichen Körpers wirklich Mensch werden
Nicht einmal Gott konnte ohne die Annahme eines
menschlichen Körpers wirklich Mensch werden.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven