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Herbert Hrachovec | Omnipräsenz / Telepräsenz
Die scholastische Lehre von der Ubiquität Gottes und der Begriffsrahmen,
innerhalb dessen vom Cyberspace gesprochen wird, sind demnach inter-
dependent. Gottes technische Form ist die der phantasmatischen Vor-
prägung der Allgegenwart in der Datenwolke. Termini, die im vorliegen-
den Beitrag in zwei getrennte Entwicklungslinien gestellt wurden, sind
unter diesen Voraussetzungen engstens benachbart. Böhme stellt die
Behauptung auf, dass sich der Enthusiasmus der ersten Generation der
Cybertheoretiker aus eben jenen („tiefenstrukturellen“) Quellen speist, die
auch Gott als höchstes Wesen mit unumschränkter Weltumfassung her-
vorbrachten. Unter der Überschrift „Cyberspace ist die technische Form
Gottes“ liest man freilich auch die folgende Einschränkung: „Natürlich ist
Cyberspace nicht Gott selbst, sondern ein menschliches Medium“ (Böhme
1996b, 7). Die Frage danach, was dann Gott selbst sei, lässt er offen. Er ope-
riert mit zwei methodischen Prämissen: einmal mit dem Bestehen einer
„Religionsform nach dem Tod Gottes“ (Böhme 1996b, 4) und zweitens mit
einer theoretischen Zugänglichkeit von Cyberspace unter Absehung von
den dazu nötigen technischen Apparaten.
Der Überwachungskapitalismus (Zuboff 2019) hat inzwischen Erkundigun-
gen über metaphysische Vorgaben der Telepräsenz in den Schatten gestellt.
Die Arbeit Böhmes stammt aus dem Ende des vergangenen Jahrhunderts,
als die Gottesfrage angesichts der stupenden Entwicklungen noch näher lag.
Heute stellt sich die Frage, welche tragfähige Verbindung zwischen einer
Religion ohne Gott und einer Datenkommunikation ohne Technik herge-
stellt werden kann. An „hintergründigen Funktionen des Cyberspace“ ist
kaum noch Bedarf. Und die Stelle Gottes nimmt, Böhme bedient sich eines
bekannten Topos, der Mensch ein. Die unter diesen Voraussetzungen ent-
wickelte „Theologie des Cyberspace“ benennt Phantasmen und übergeht
Fakten, um ein Kontinuum zwischen Gottesbildern und Technokratie zu
zeichnen. Es bleibt die Frage, was vom Menschen in der neuen Rolle zu er-
warten ist und wie es auf das hier verhandelte Thema wirkt. Entkommt der
Mensch, in diese Position gehievt, dem Atheismus? Würde sich damit nicht
die Beschwörung „vergangener Theologoumena und Mythologeme“ er-
übrigen? Wie ist die Wendung zu verstehen, Gott sei tot, der Mensch sei
an seine Stelle getreten? Der Monotheismus bekennt einen Gott, aber einen
entsprechenden Menschen gibt es nicht.
Welche tragfähige Verbindung kann zwischen einer Religion ohne Gott
und einer Datenkommunikation ohne Technik hergestellt werden?
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven