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Christian Wessely | Wie spricht ein Geist zum anderen Geist?
Diese Schöpfungsidee muss radikal ernst genommen werden: Der Mensch
ist dann und nur dann Mensch, wenn er die Gottesprädikate in Analogie und
begrenzt, aber doch nach seinen besten Möglichkeiten verwirklicht und an-
deren zu verwirklichen hilft: Ganz im Jetzt sein; ganz im Hier sein; sich mĂĽ-
hend um Wissen und um Handlungsmöglichkeiten, aber vor allem und alles
dies unter dem Vorzeichen der Barmherzigkeit. Bleibt es unberĂĽcksichtigt,
entstehen jene „Zombies“, von denen Peter Strasser (vgl. 2016) spricht.28
Damit ist aber zweierlei klar: Zunächst ist genau dieser Handlungsort das
Entscheidungsfeld fĂĽr die Transzendenzoffenheit des Menschen, sei es im
Hinblick auf die mittlere oder groĂźe Transzendenzdefinition Luckmanns.
Wird er ausgeklammert, vergibt sich das Individuum eine der wenigen
Chancen, sich als etwas auszuweisen, was mehr ist als bloĂźe haecceitas.29
Sodann ist dadurch einsichtig, dass ein technisches System zwar als ein
Ort betrachtet werden kann, an dem das Objekt der mittleren und groĂźen
Trans
zendenzerfahrung sich dem eigenen Selbst gegenüber äußert, ähnlich
wie brennende Dornbüsche oder ein Windhauch (vgl. Ex 3,2; 1 Kön 19,12),
aber keineswegs die Repräsentation dieser Erfahrung selbst sein kann.
Mit Tillich wäre das größte Risiko der Dämonisierung an dieser Stelle wohl,
Ort und Repräsentation zu verwechseln. Hans-Dieter Mutschler hat be-
reits 1998 die Forderung nach einer Theologie der Technik vorgelegt, die
sich dadurch auszuzeichnen habe, technologische Entwicklungen (auch im
Sinne von konkreten Produkten) im Hinblick auf ihre trans-utilitaristische
Komponente als potentielle Repräsentanz religiöser Transzendenz zu deu-
ten (vgl. Mutschler 1998, 243–244). Diese von Mutschler vorgelegte For-
derung erscheint angesichts der derzeitigen Entwicklung dringender denn
je; ihre Erfüllung ist aber trotz bemerkenswerter Ansätze30 nach wie vor
nicht absehbar, und zwar, wie ich unterstelle, prinzipbedingt.
Folgerungen
Wenn wir die angeführten Prämissen akzeptieren und ernst nehmen, er-
geben sich einige Folgerungen, von denen ich vorerst drei herausgreifen
möchte, um sie hier in aufsteigender Reihenfolge ihrer Wichtigkeit anzu-
fĂĽhren.
28 Strassers These von der poten-
tiellen metaphysischen Hohlheit
des Menschen, die sich in medien-
kulturellen Produkten spiegelt,
trifft einen Kern des Problems. Wer
verschiedene Challenges auf Tik-
Tok (Kulikitaka, SuperGlue etc.),
die als Markenzeichen zelebrierte
Oberflächlichkeit verschiedenster
Influencerinnen und Influencer auf
YouTube bzw. das Medienkonsum-
verhalten der Jugendlichen und jun-
gen Erwachsenen gegenĂĽberstellt,
gewinnt ein eigenartig inkohärentes
Bild. In ihrer Selbsteinschätzung
sind insbesondere Jugendliche
sehr verantwortungsvoll und be-
dacht; woher dann die ungeheuren
Klick- und Follower-Zahlen von mit
klassischen moralischen Modellen
inkompatiblen Medienprodukten
kommt, ist nicht völlig nachvoll-
ziehbar. Vgl. dazu: vom Orde/Durner
2020.
29 Aus Sicht des Autors sind die
anderen drei Möglichkeiten – nicht
zufällig – identisch mit den christ-
lichen Kardinaltugenden Glaube,
Hoffnung und Liebe.
30 Klaus MĂĽller kann hier als Vor-
denker gelten (vgl. MĂĽller 2008,
211-260; MĂĽller 2011).
Der Mensch ist nach dem Bilde Gottes geschaffen.
Diese Schöpfungsidee muss radikal ernst genommen werden.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven