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Gerhard Langer | Essen und Trinken als Ausdruck von Identität und Diversität im (rabbinischen) Judentum
1 Hinführung
Essen und Trinken gehören nicht nur zu den Grundbedürfen jedes tieri-
schen wie menschlichen Geschöpfes, sondern bilden auch eine wichtige
Grundlage von Kultur. Kultur umfasst die Gesamtheit menschlicher Arbeit
und Lebensformen, und im Sinne der von Ernst Cassirer initiierten „Phi-
losophie der symbolischen Formen“ kann man damit den Menschen und
die Gesellschaft „in [ihren] sprachlichen Formen, in Kunstwerken, in my-
thischen Symbolen oder religiösen Riten“ (Cassirer 1960 [1944], 39) be-
schreiben. „Der Mensch lebt in einem symbolischen und nicht mehr in ei-
nem bloß natürlichen Universum“ (ebd.). Dies gilt nicht zuletzt für Essen,
Trinken und Fasten.
In einem religiösen kulturprägenden Kontext tritt die Speise etwa im Rah-
men eines heiligen Mahls auf, aber natürlich auch als Opfer. Fasten wie-
derum ist nicht nur Essensverzicht, sondern auch Ausdruck der Buße und
unterstützt das Gebet, z. B. bei Hungersnöten, Dürren oder Bedrohungen
von außen. Als Teil der regelmäßigen Liturgie trägt es zum kollektiven Ge-
dächtnis bei, im Judentum z. B. bei Bußfeiern oder besonderen Feiertagen
wie dem Jom Kippur oder dem 9. Av (an dem man u. a. der mehrfachen Zer-
störung des Jerusalemer Tempels gedenkt).1 Lange Zeit bildete der Tempel
in Jerusalem das geistige und rituelle Zentrum des jüdischen Volkes. Op-
ferdarbringungen brachten Struktur in den Tag und waren unverzichtba-
rer Bestandteil der Gottesbeziehung. Mit dem Opfer waren Schlachtungen
am Tempel verbunden, die auf rituelle Weise (Schächtung) zu geschehen
hatten. Die profane Schlachtung, vor allem in Dtn 12 erwähnt, steht dazu
in gewissem Gegensatz und war Folge der Zentralisation des Kultes auf Je-
rusalem.
Nach der Zerstörung des Tempels 70 n. a. Z. und vor allem nach der Nieder-
schlagung des Bar Kochba-Aufstandes durch Rom wurde Jerusalem seiner
Bedeutung als Kultzentrum beraubt, den Juden sogar verboten, die Stadt zu
betreten. Mit kurzer Unterbrechung im 7. Jahrhundert, in dem Juden unter
persischer Herrschaft Jerusalem kontrollierten, blieb die Stadt bis in die
Moderne als „reale“ Größe wenig attraktiv, umso mehr jedoch als Identi-
fikationsort, aufgeladen mit Träumen und Utopien, als Zentrum und Nabel
der Welt apostrophiert. Wenn einst der Messias kommen wird, werden alle
„Der Mensch lebt in einem symbolischen und
nicht mehr in einem bloß natürlichen Universum.“
1 Vgl. in diesem Zusammenhang
auch die Erzählung vom vierzig-
jährigen Fasten Rabbi Tzadoqs
während der Belagerung Jerusalems
durch die Römer, die lange Zeit
bewirkte, dass die Stadt nicht ein-
genommen werden konnte, u. a. im
babylonischen Talmud Gittin 56a. –
Den Bereich des Fastens, der eine
wichtige Rolle im Judentum spielt,
werde ich aus Platzgründen in die-
sem Beitrag nicht weiter behandeln.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 214
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven