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Gerhard Langer | Essen und Trinken als Ausdruck von Identität und Diversität im (rabbinischen) Judentum
(aschkenasische Form des hebräischen trefa) zu versehen. Woher kommen
diese Begriffe?
Kascher bedeutet so viel wie „angemessen sein“ und begegnet in der Bibel
nur in späteren Texten, in Est 8,5 sowie Koh 10,10 und 11,6. Hier geht es je-
doch nicht um Speisegesetze. Erst die Rabbinen verwenden die Begriffe im
Zusammenhang mit kultischer Reinheit, Speisegesetzgebung und ritueller
Tauglichkeit.
Nicht nur Speisen können koscher sein, sondern beispielsweise auch eine
Torarolle, die nach allen gesetzlichen Vorgaben hergestellt wurde. Im wei-
teren übertragenen Sinn werden auch Umstände oder Menschen mit dem
Prädikat koscher versehen. „Nicht ganz koscher“ drückt dann ein Unbeha-
gen gegenĂĽber Sachen oder Personen aus, denen man nicht vertraut.
Neben koscher und trefe unterscheidet man heute auch noch neutrale Spei-
sen als parve3. Dazu gehören vor allem Gemüse, Früchte, Getreide, Honig
und Eier, ebenso Tee, Kaffee, Erfrischungsgetränke sowie etliche Süßigkei-
ten. Fisch ist ebenfalls parve, wird aber – wohl wegen einer auf das wich-
tige spätmittelalterliche Gesetzeskorpus Schulchan Aruch zurückgehenden
Regelung – nicht zusammen mit milchigen Speisen gegessen, obwohl noch
der Talmud4 (Chullin 103b) darin kein Problem sah.
3 Fleisch oder nicht Fleisch – und wenn ja, welches?
Der Fleischgenuss wurde in der Bibel erst nach der Sintflut erlaubt (Gen
9,1–4). Im Paradies hatten Adam und Eva sich von Früchten und Pflanzen
ernährt und einmal auch von der falschen Frucht gekostet, die nach An-
sicht der Rabbinen vieles war, nur kein Apfel. Das paradiesische Zeitalter ist
vorbei, doch haben immer wieder jĂĽdische Gelehrte daran angeknĂĽpft und
das vegetarische Essen als vorbildhaft bezeichnet. Einer der bedeutendsten
war sicher Rav Abraham Isaak Kook (1865–1935), der erste aschkenasische
Oberrabbiner Israels. Er betonte, dass die Erlaubnis zum Fleischgenuss
nach Dtn 12,20 eigentlich ein versteckter Vorwurf und ein eingeschränktes
Gebot an die Menschheit war. Es werde der Tag kommen, an dem die Men-
schen aus moralischen Ăśberlegungen den Fleischverzehr ablehnen wĂĽrden.
FĂĽr die messianische Zeit prophezeite er, dass diese wieder die paradiesi-
schen Zustände herstellen würde, dass die Tiere dann an der Erkenntnis
des Menschen Anteil hätten und im wiedererrichteten Tempel nur vegeta-
rische Opfer dargebracht würden. Damit werde die in Jes 9,6–11 dargelegte
Vision vom friedlichen Miteinander erfĂĽllt. In einem zukĂĽnftigen idealen
3 Zur Herkunft des Wortes siehe
http://www.balashon.com/2006/06/
pareve.html [10.08.2021].
4 Der Talmud ist das bedeutendste
Werk der rabbinischen Literatur. Er
entstand als Weiterentwicklung der
ersten groĂźen rabbinischen Rechts-
sammlung, der Mischna, in zwei Va-
rianten, einmal in Israel (palästini-
scher oder Jerusalemer Talmud) und
einmal in Babylonien, dem damals
persisch regierten heutigen Irak. Der
babylonische Talmud, kurz Bavli,
ist bis heute im observanten Juden-
tum richtungsweisend. Er entstand
zwischen dem 3. und 8. Jahrhundert,
wurde aber bis in die Neuzeit kom-
mentiert und weiterentwickelt.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 214
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven