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Gerhard Langer | Essen und Trinken als Ausdruck von Identität und Diversität im (rabbinischen) Judentum
des hebräischen Wortes für Wein (Jajin) gleich wie der von Geheimnis (sod,
beide haben den Zahlenwert 70; vgl. Marx 2014) –, sondern auch in die Irre
leitet.
Einige Beispiele illustrieren die negativen Folgen des Weingenusses, so z. B.
bei Noach in Gen 9. Für die jüdische Tradition insgesamt mag gelten, dass
sie vor übertriebenem Alkoholkonsum warnt (vgl. z. B. Midrasch6 Levitikus
Rabba 12), Wein aber vor allem an Festtagen – an Pesach sind vier Becher
Wein Pflicht – oder am Schabbat als festen Teil der familiären Feier ansieht.
„Für die rabbinischen Autoren ist Wein eine Metapher des Guten und Ed-
len und maßvoller Weingenuss ein Zeichen des guten Lebens sowie des
körperlichen und seelischen Wohlbefindens. […] er steht für die Unter-
scheidung vom Alltag und somit fast für eine Präsenz des Göttlichen. Mit
feinem Humor spricht Bavli Berakhot 34b von jenem köstlichen Wein,
der in der Kommenden Welt auf die Gerechten und Toragelehrten war-
tet.“ (Plietzsch 2014, 66)
An einem Fest, nämlich zu Purim, darf auch einmal ordentlich über die
Strenge geschlagen werden und soviel getrunken, dass man nicht mehr
zwischen Gut und Böse unterscheiden kann (vgl. Talmud Megilla 7b).7
Wein kann natürlich auch als Metapher für die Tora verstanden werden,
worauf ich später noch zurückkomme. So heißt es etwa im babylonischen
Talmud Taanit 7a:
„R. Oschaja sagte: Warum werden die Worte der Tora mit drei Flüssig-
keiten verglichen: Wasser, Wein und Milch?, wie es heißt: ‚Auf, alle Durs-
tigen, kommt zum Wasser‘ (Jes 55,1)8, und es heißt: ‚Kauft Getreide und
esst, kommt und kauft ohne Geld und ohne Bezahlung Wein und Milch!‘
(Jes 55,1). Dies lehrt dich, dass, wie jene drei Flüssigkeiten nur in den ein-
fachsten Gefäßen aufbewahrt werden, so auch die Worte der Tora nur in
denen verweilen, die einen demütigen Geist haben.“
Im übertragenen Sinn bedeutet der Wein auch die Haggada, also die nicht-
gesetzliche Tradition und Bibelauslegung, welche das Herz der Menschen
erfreut und wunderbar zum feinen Brot der Halacha (des Religionsgeset-
zes) „schmeckt“ (Sifre Dtn § 317).
Im Mittelalter spielte Wein eine Rolle bei magischen Riten (vgl. Rebiger
2014), wurde in der profanen Literatur besungen (vgl. Lehnardt 2014) und
6 Midrasch ist die Bezeichnung
einer rabbinischen Bibelauslegung.
Sie beinhaltet den biblischen Text,
der zitiert und danach interpretiert
wird. Die wichtigen Midraschim
entstehen alle in Israel zwischen
dem 3. Jahrhundert bis ins Mittel-
alter.
7 Freilich gibt es auch hier Gegen-
stimmen, welche die talmudische
Aufforderung anders deuten, vgl.
u. a. https://www.ou.org/holidays/
ad_dlo_yada_until_one_cannot_
distinguish/ [29.11.2020].
8 Alle Bibelzitate werden nach der
Einheitsübersetzung von 2016 wie-
dergegeben, wenn nicht aus sprach-
lichen Gründen eine andere Über-
setzung notwendig wird.
Wein, der das Herz des Menschen erfreut
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 214
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven