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Gerhard Langer | Essen und Trinken als Ausdruck von Identität und Diversität im (rabbinischen) Judentum
Auf polemische Weise können auch die barbarischen Sitten mancher Nicht-
juden beschrieben werden, denen man Sex mit Tieren vorwirft, was eben-
falls der Abgrenzung dienen soll, so z. B. im Talmud Avoda Zara 22b, wo es
u. a. heißt:
„Komm und höre! Rav Jehuda sagte, Schmuel sagte im Namen Rab-
bi Chaninas: Ich sah einen Götzendiener, der eine Gans auf dem Markt
kaufte und mit ihr kopulierte, sie dann erwürgte, röstete und aß.“
Solche Polemik wirkt heute für viele verstörend und mutet in dieser Form
auch deutlich übertrieben an. Sie ist wohl auch ein Ausdruck des Wider-
standes gegen eine überwältigende Mehrheit, die die Macht besitzt und
gegen die man als Minderheit nur mit viel Selbstbewusstsein und nicht sel-
ten auch mit Humor und List auftreten muss. Auch dazu ein Beispiel im
Zusammenhang mit Speisen: Der bedeutende Rabbi Meir, der im 2. Jahr-
hundert lebte, soll eine junge Jüdin aus einem römischen Bordell befreit
haben. Danach, so heißt es, wurde er durch eine List vor der Verfolgung
durch die erbosten Römer gerettet. Diese Erzählung findet sich im Talmud
Avoda Zara 18b. Im Midrasch Qohelet Rabba 7.12.1 wird sie später ausgebaut.
Dort heißt es:
„R. Meir wurde von der Regierung gesucht und floh. Er kam an einem
römischen Laden vorbei. Er fand sie dort beim Essen von dieser Art
(Schweinefleisch). Als sie ihn sahen, sagten sie: Ist er es oder nicht? Sie
sagten: Rufen wir ihn her. Wenn er es isst, ist er es nicht, und wenn nicht,
dann ist er es sicher. Sie riefen ihn, und er kam. Als er kam, sagten sie zu
ihm: Iss mit uns! Und er steckte einen Finger in das Schweineblut und
steckte einen anderen in seinen Mund und schleckte ihn ab. Sie sagten
zueinander: Wenn dieser R. Meir wäre, hätte er nicht so getan. Und sie
entließen ihn, und er floh. Sie sagen über ihn: ‚Die Weisheit erhält ihren
Besitzer am Leben‘ (Koh 7,12).“
Auf der anderen Seite finden sich über die Jahrhunderte hinweg unzähli-
ge Beispiele von polemischen Attacken gegen das Judentum, die sich auch
gegen die Speisegebote richteten, angefangen von den römischen Satiri-
kern wie Juvenal und Petronius bis zu den mittelalterlichen Darstellungen
der Judensau, die ich hier nur kurz erwähnen kann. Judensau-Spottbilder
Auf polemische Weise werden die barbarischen
Sitten mancher Nichtjuden beschrieben.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 214
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven