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Claudia D. Bergmann | Allein am Tisch?
1 Mahlrituale und Gemeinschaftsidentität: Ritualtheoretische Ansätze
Gemeinsame Mähler sind immer mehr als Nahrungsaufnahme in Gemein-
schaft. Schon Mary Douglas schrieb:
„If food is treated as a code, the message it encodes will be found in the
social relation being expressed. The message is about different degrees of
hierarchy, inclusion and exclusion, boundaries and transactions across
the boundaries“ (Douglas 1999 [1972], 231).
In Gemeinschaftsmählern begründet sich Gemeinschaft und spiegelt sich
Gemeinschaft. Gemeinsames Speisen ist ein hochritualisiertes Geschehen.
Hier werden Identitäten von Individuen und von Gemeinschaften, die aus
diesen Individuen bestehen, verhandelt, dienen Rituale doch dazu,
„[...] sich der Präsenz der Gemeinschaft immer wieder zu versichern,
deren zeitlose und unveränderlich gültige Ordnung und gegebenenfalls
deren Transformationspotentiale durch Wiederholung zu bestätigen und
auf Dauer zu stellen“ (Wulf/Zirfas 2004, 21).
Für das gemeinsame Mahlhalten als Ritual gilt, dass „gemeinsames Mahl
und Identitätskonstruktion […] zusammen[gehören]“ und dass sie „gera-
dezu zwei Seiten der gleichen Medaille“ sind (Ebner 2007, 12).
WĂĽrde man die in der EinfĂĽhrung beschriebenen Mahlhandlungen und
ihre unterschwelligen oder offensichtlichen Rituale als AuĂźenstehender
beobachten, könnte man anhand der verzehrten Speisen und anhand der
vollzogenen Rituale bald erkennen, ob es sich um ein Initiationsmahl, ein
Trauermahl, ein Festmahl zu Geburt oder Hochzeit oder ein Staatsbankett
handelt. Das ist auch fĂĽr jedes andere Mahl der Fall, egal ob es ein hochri-
tualisiertes religiöses Mahl ist oder aber ein Alltagsmahl.1
Victor Turners These, dass Rituale eine Gemeinschaft (die Turner’sche
communitas) verändern und bewegen können, ist hier aus ritual-theore-
tischer Sicht von besonderer Bedeutung (siehe u. a. Turner 2005b [1969];
Turner 2005a [1967]).2 Rituale, auch Mahlrituale, erlauben Liminalität
und damit die Möglichkeit, durch einen rite de passage von einem Gemein-
schaftszustand zum nächsten zu kommen. So kann ein festliches Mahl be-
Rituale können eine Gemeinschaft
verändern und bewegen.
1 Zu Kategorisierungsversuchen
siehe u. a. Hayden 2001; Dietler 2001.
2 Zu ritualtheoretischen Fragen
zum Mahl siehe auch Bergmann
2019.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 214
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven